Moderne Poesie
in der Schweiz, Roger Perret (Hrsg.), Limmat Verlag 2013.
Das beste Buch der Schweiz, und damit der Welt, hat
Roger Perret geschrieben. Denn da die Welt eine Collage ist, wie man weiß, und
jede Collage eine Welt, und eine Anthologie eine Collage, weiß man mit
Väterchen Benjamin, eine Anthologie sei ein Buch im Sinn, nach dem wir sehnen,
ein Werk. Roger Perret hat also das beste Werk zur Schweiz geschrieben, und
damit das beste Buch zur Welt. Die Standardaussage über die Schweizer Literatur
ist, es gebe sie nicht. Die Gegenaussage kann man sich anhand dieser Anthologie
zurechthäkeln: Es gibt sie, sie blickt gerade schräg an dir vorbei, Welt!
In Biel steht heutzutage eine Schreibschule für
BA-Studenten. Viel interessanter war aber ihre inoffizielle Vorgängerin, die
Irrenanstalt Waldau. Nein, die Schweiz ist kein Irrenhaus, und die Schweizer
Literatur ist nicht irr, nur ihr bester Teil, wir, wir haben das Lötschentaler
Grinsen an uns. Aus den Bergen herabgeklettert, gestern erst, o Welt!, umarme
ich dich (mit gehörigem Abstand, dass ich deine Brüste, unzüchtig, nicht fühle)
- wobei Silja Walter gerade Servietten bestickt - aber immerhin, o Sonne!, dein
Wärmestab fährt in meine Iris, und wir tanzen mit dem Pferdehuf, o Huf! usw.
Aber lassen wir diesen Unsinn.
Immerhin ist es, obwohl dumpf bekannt, doch
überraschend, wieviele der Dichter in diesem Band spinnen und sponnen, auch
über Walser, Glauser und Wölfli hinaus, in der Waldau und anderswo, im
experimentellen Gestus weiterhin. Ohne jede Pathologisierung ist man zu einer
Diagnose veranlasst, dass den Schweizern irgendwie trotz allem ein leicht
schiefer Weltblick eigen ist, ein leichtes Schielen aus den Bergkesseln zur
Sonne, Deutschschweizern auch ein sprachliches Hinken in der Hochsprache mit
Holzbein, eine leichte Verrückung der Ansicht und Aussprache, ein Manierismus,
eine vorgetäuschte Ungehobelt-, Unvereinbarkeit, alles vorgetäuscht als ein
Klischee, in dem man sich eingerichtet hat, und trotzdem den Wahn im Sinn als
nirgends endende Ironiespirale (Schwermut). Oder zumindest hätte ich die
Schweizer gerne so und kann sie mir mithilfe dieser Anthologie so collagieren.
Ich schreibe über die Schweiz, die mich interessiert.
Beginnen wir also mit zwei Gedichten aus der Waldau:
ce
roi
qui n'est r i e n
r i e n
et
moins
que
r i e n
de la m e r d
e
de la vache
de la
vache
de la merde
de la
sursursursur
m e r d e
a passé
ce matin
ce premier
nom
est là
il n'y a pas de présence vivante
un tiers d'un rien mais il y a
(Constance Schwartzlin-Berberat, s. 94)
N=Ha=angs=ssi,
Aer ta=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, witt Witt;
N=Ha=angs=ssi,
Aer fa=angs=Sie; N=Ha=angs=ssi, nitt gitt;
N=Ha=angs=ssi,
Aer bra=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, ritt nitt;
Schittara i da,
Krina=lina; G'wittara bi da, Fina griin.
N=Ha=angs=ssi,
Aer wa=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, ? witt Chitt;
N=Ha=angs=ssi,
Aer a=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, Schitt litt;
N=Ha=angs=ssi,
Aer scha=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, bitt nitt;
Bi no Dina, zin
o wie N; Schnitt itz, gritt.
Ist 32 Schläg
Marsch. 1869.
(Adolf Wölfli, s. 40)
Die Versuchung, nach Originalität, Ausdruckskraft usw.
zu rufen ist beinahe zu groß, um ihr nachzugeben, aber wenn man die hohen Worte
als Negativa von Epigonalität und Schwachbrüstigkeit fasst, darf man es sich
vielleicht doch leisten. Jedenfalls ist die Merkwürdigkeit dieser Gedichte, aus
welcher Kondition heraus auch immer, so beklemmend wie befreit. Es sind Texte,
die sich um sehr vieles, worum wir uns sonst kümmern, nicht scheren, besonders
um die Angepasstheit, und ästhetische Kraft daraus gewinnen, dass die Logik
ihres Aufbaus (man gestatte mir!) bis zur Unerschließbarkeit in sich
geschlossen ist. Auf die Gefahr hin, dem Klischee der naiven Kunst zu verfallen,
möchte man sagen, das Schielen hier sei echt und die Verrücktheit des Blicks
unverfälscht. Aber wichtiger als Formeln der Wahrhaftigkeit ist der
experimentelle Gestus, der Mut, eine Tradition weiterzuschreiben, statt sich in
ihr niederzulassen wie in einem durchgesessenen Fauteuil, und diese Justierung
der Tradition geschieht im Verändern des Gewohnten, darin, um die verhunzte
Lichtermetapher weiterzuschreiben, die Augen leicht schräg auf den üblichen
Gegenstand zu richten. Das Schielen des Wahnsinns ist dabei ein Instrument, ein
anderes das nicht-naive Schielen der Avantgarde, sich leicht zu verrücken.
Letzteres an drei Beispielen:
I.
Foie de tortue
verte truffé
Langouste à la
mexicaine
Faisan de la
Floride
Iguane sauce
caraïbe
Gobmos et choux
palmistes
V.
Ailerons de
requin confits dans la saumure
Jeunes chiens
mort-nés préparés au miel
Vin de riz aux
violettes
Crème au cocon
de ver a soie
Vers de terre
salés et alcool de Kawa
Confiture
d'algues marines
(Blaise
Cendrars, aus Menus, s. 19)
Die Strassen
besassen das Aussehen von schöngeschriebenen
Adressen und
dufteten wie Damenhandschuhe, und vom Wald,
durch den
gerade Gassen sich wanden, sage ich nichts, da dies
ein Wagnis sein
könnte, wohl aber lüge ich etwas über ihn, und
indem ich vor
lauter blauer Verlogenheit weiss wie das himm-
lischschöne
Gesichtchen eines auf dem Krankenbett ausge-
streckten
Mädchens bin, ist der Wald feuerrot geworden, und
seine
unzähligen Blätter scheinen mich einzuladen, an die Mög-
lichkeit zu
denken, an das Stattgefundenhaben eines Abendes-
sens zu
glauben, das vorhanden war und sich gleichzeitg nir-
gends entdecken
liess. Gleiche ich nicht einem unausmessbar
tiefen Teich an
reichen weichen Schweigsamkeiten, die sich aus
übereinandergestürzten
Redseligkeiten zusammensetzen, und
sind diese
Zeilen irgend etwas wert? Nein, gewiss nicht! Aber sie
sind ein
Versuch, sich genial aufzuführen, und sollte ein solcher
Versuch nicht
an sich eine Grandiosität sein? Ich ermordete
gestern nacht
sämtliche sich in mir bis dahin aufgehalten ha-
benden
Mordlüste und triefe jetzt noch vor Blut und streiche
mit der
Schwarzheit dieser schwarzen Zeilen mein knallgelbes
Prosastück
meinetwegen dunkelblau an. Gruses Gnusch, was
de bisch. Feine
Huere, wo dr sid. D'Suppe isch verbrännt. Machet's
besser, wenn dr
chönnt. Es isch nämlich cheibe schwär, verrückt
z'dichte.
(Robert Walser)
Aloyse, ou
Wölfli, ou le musicien de Ballaigues, trépassés l'aurore aux doigts, avec des
crayons de couleurs, mâchant mille fois leur rêves sur les mur de la cellule,
sur le plancher, sur les cartons donnés par l'infirmier: la plus suisse de
toutes les vies et de toutes les morts.
(Maurice Chappaz, aus La mort natale, s. 122)
Natürlich wäre es grundsätzlich absurd, die Verrücktheit
der Avantgarde als schweizerisch zu beanspruchen. Aber wir folgen hier der
Stipulation, dass die Schweiz die Welt ist, also folgt... Relevant für unsere
Zwecke ist, dass sich das Schielen über den Wahnsinn hinaus bei den Gesunden
manifestiert und dass die Merkwürdigkeit der Weltbetrachtung tiefer liegt als
die Keller der Waldau. Man merkt dabei auch schon, dass der Schweizer Wahnsinn
ein Konstrukt ist, ja, der Irre in der Zelle, Chappaz, das ist der Schweizer!
Der Irre in der Zelle ist eine Erfindung des Irren in der Zelle, ein weltanschaulicher
Kniff und eine self-fulfilling prophecy.
Selbstverständlich konnte Dürrenmatt den Akkusativ vom Nominativ unterscheiden,
nur passte das nicht in die Pose des abhandengekommenen, bernerisch
verschleppten Schweizers. Nur war er dadurch auch der abhandengekommene
Schweizer: Teil des Wahnsinns ist das vermeintliche Vorspielen des
Nichtgespielten im Spiel, und wer wüsste das besser als Dürrenmatt. Ein
Schweizer Schielen ist also erstens immer vorgespielt, zweitens immer
tatsächlich und drittens: Drittens ist es ein Schielen auf sich selbst. Wir
konstruieren uns nicht nur als Irre, sondern wir konstruieren uns auch als
Schweizer. Kein Schweizer, der nicht andauernd über die Schweiz spricht, kein
Schweizer, der nicht andauernd zur Schweiz schreibt, die Schweiz zum
Problemfall, zum Patienten macht, um den Wahnsinn zu diagnostizieren (zu
konstruieren), anhand dessen man sich auch als Schweizer konstruieren
(diagnostizieren) kann. Der Schweizer steht auch deshalb schräg zur Welt, weil
er immer auf sich selber schielt, sein Schweizersein. Robert Walser wechselt
mit dem Wahnsinn in den Dialekt.
Nur, wozu tut das der Schweizer? Aus Effektsucht. Die
Poesie funktioniert ganz gleich wie das Schweizern. Wir erzielen Effekt und
gewinnen Aufmerksamkeit, weil wir mit den Wanderschuhen in den Ballsaal laufen.
Sich schief zu stellen, merkwürdig aus den Augenwinkeln zu blinzeln, in
Selbstreferenz und Weltblindheit, ist das beste Mittel, um herauszustechen.
Allerdings kümmert es einen Schweizernden wenig, was die anderen denken.
Wichtig ist nur, dass er oder sie denkt, die Welt dächte, der Schweizer sei
besonders. Wir schielen aus Selbstverliebtheit zur Selbstdarstellung. Das
Schielen hat tiefere Gründe als die Keller der Waldau und die Verrückspiele der
Poesie. Nur einmal im Jahr fällt die Sonne durchs Martinsloch, und wir bücken
uns all die Tage über dem Kohlfeld mit schiefen Augen, um den Moment nicht zu
verpassen, den Moment des Strahlens, und tun ganz irr, um Papa Helios auch
bestimmt auf uns zu lenken. Nun, das ist die moderne Schweiz, und das ist die
moderne Poesie in der Schweiz.
Schubert wollte vor seinem Tod noch anständig den
Kontrapunkt lernen, und wir wollen ihn ehren, indem wir den Kontrapunkt ehren.
Nicht die ganze Schweiz ist irr. Im einen Fall muss man sagen, leider, im Fall
nämlich der Ich-sitze-auf-dem-Balkon-und-fühle-mich-lyrisch-Lyrik. Die
verrückte Schweiz ist positiv zu werten, denn immerhin ist sie interessant
(oder lustig). Die Geranien- und Schrebergartenschweiz von Silja Walter, ach,
lassen wir sie beiseite. Ich schreibe über die Schweiz, die mich interessiert.
Im anderen Fall bietet sich die Interessenlage völlig anders dar. Es gibt auch
eine klassizistische Schweiz der weiten Flächen und der Friedellschen
Gipsköpfe. Der König der klassizistischen Schweiz ist selbstverständlich ein
Tessiner, Giorgio Orelli:
Racontino 1947
I
Da molto tempo La stellate sera
è tra i miei
libri perduit,
forse, per
sempre.
Mi spiace per
la dedica
distillata con
tanta prudenza
sotto i miei
occhi, a casa mia, d'estate:
"A Giorgio
Orelli, poeta
nel senso della
fresca giovinezza
che è in lui,
questi versi
d'un uomo
sempre proto ad ascoltare
le voci della
rinascente primavera.
Francesco Chiesa."
II
Volevo un picchio verde sul mio tavolo
e andai nel bosco
per prenderlo
e l'ebbi presto
nel mirino: tranquillo
in cima a un
larice, taceva, ma un attimo prima
che sparassi
fuggì con quel suo trillo
che tanto
piacque a Montale
su un albero
più alto dove poteva anche meglio
ruggiungerlo la
rosa, ma sul punto
di far fuoco di
nuovo volò via
con trillo che
sapeva die beffardo, che ancora cessò
sulla vetta
d'un albero,
e perdurava il
buffo inseguimento
quando, nel
gran silenzio dell picchio, sentii delle voci,
parevano
risate,
e vidi due
giovanotti velluteggiare tra l'erica
e le betulle,
due cacciatori che mi vennero allegri
incontro; di
Sagno, disserio; dico: "Di Sagno? il paese
de Chiesa,
Franceso, il poeta? Poco fa
gli avete fatto
festa, per i settantacinque mi pare."
"Eh, se
fosse per lui...", dice l'uno,
"somiglia
a quello che ha inventato l'ostia";
e l'altro:
"A Sagno avevamo la Posta
noi, mi
ricordo, fin dentro alla guerra
al Chiesa dall'
Italia arrivavano pacchi
e pacchi e
pacchi..."
"Ah",
dico, "libri,
saranno stati
libri."
(ss.177-8)
Im Oberton hört man Horaz (und Petrarca usw.), die
Heimatlandschaft, das Heimatgetier, der Lokaldichter, die lokale Jugend, ohne
erkünstelte Zuspitzungen im ruhigen Fluss metrisch sicher dargestellt; die
Politik im Hintergrund, doch präsent, die Wechsel von Beschreibung zu direkter
Rede und umgekehrt, die Setzung der Sphragis, der Schnitt zwischen den Strophen
ohne Entschuldigung selbstbewusst getroffen, das Biographische, Alltägliche,
Politische in Ruhe aufeinander bezogen. So wie man es bei Horaz findet, wenn er
Maecenas zum Abendessen einlädt... Es ist beiläufige, undramatische Lyrik, die
durch Ausschluss aller Fanfarenstöße das Äußerste wagt, ohne sich in Weisheit
oder Effekt in Phrasen einzubohren alles an der Oberfläche, tiefenlos zu
belassen, klassizistisch eben. Diese Schweiz blickt so gerade in die Ebene,
dass man an Bergkessel nicht dächte. Alles hat seinen gesicherten Ort, vom
Verrückten ist keine Spur, von der Gummizelle und
Nominativ-Akkusativ-Karussellen ahnt man nichts. Beinahe vermisst man das
Verquere und Verschrobene bereits wieder, trotz aller Bewunderung für die
Perfektion. Dann muss man sich in Erinnerung rufen, dass auch glattes Eis tief
sein kann, und ich verneige mich vor dem Meister Orelli.
Doch Klassizismus erscheint auch anders, vielleicht in
einer Gestalt, die synthetische Herzen wie meins glücklicher stimmt. Vielleicht
auch in einer zukunftsweisenderen Gestalt, da er alte Formen und Gesten
bedient, ohne die modernen Verrückungen zu übergehen. Es ist Zeit für Urs
Allemann:
Alkäisch die achte
Das Herz dir ausreisst dass es zu wachsen nicht
den
Rippenbunker und die Musik nicht mehr
hinauffliegt da
die Zimmerdecke
dir in den
Himmel und Wolkenbäche
an dir herunter während die Zunge noch
die Sonne
wegkickt und das Wort Äther dich
so unbetäubt
dass nie den Hirnstein
dir aus dem
Schädel zu klopfen Töne
genug und Bilder wie sie dir augenlos
zusammenrascheln
wenn im Vokabelsturm
du Dinge
loslässt dass der Atem
durch dich
hindurch in ein ander Ohr dich
zu stranden auf der Welle ob Regen du
ob
Rückflussrinne wär es ein Körper wär
es Schlaf zu
nennen wenn der Wind sich
um dich aus
Pochen und ob es Haut wär
(s. 427)
Hier blickt der Schweizer in die Ebene und ist ruhigen
Bluts, und doch schielt er froh, der Gipskopf schielt, und die Metopen
verrutschen auf ihren Holzbeinen. Das Schielen nach sich selbst im
Wasserspiegel, doch, ich glaube, auch das ist noch da, hier steht noch
wunderbar der ganze Schweizer Narziss, nur hat er seinen Wahnsinn, seine
Ironie, seine Schwermut in eine luzidere Form drapiert, die das Riechen in die
Weite ohne Verzicht auf die Lötschentaler Maske erlaubt.
All das ist historische Betrachtung. So war die
Schweizer Literatur und in ihr die Schweiz. Wie sie wird, wer weiß. Ich hoffe
auf den Lötschentaler Klassizismus. Einstweilen aber ist Perrets Anthologie as
Patientenakte unübertrefflich.
il s'évaderait
à jamais
dans cet
archipel de calme et de douceur
où les idiots
peuvent marcher dans l'auréole
d'un soleil à
eux seuls réservé
il posa sa tête
sur le rail
l'âme en paix
comme un
nouveau-né qui s'endort
(Francis Giauque, aus L'idiot du village, s. 127)