Lutz Seiler, Kruso,
Suhrkamp 2014.
Schon immer wollte ich
einen Roman schreiben, d.h. ein Buch von fünfhundert Seiten, in dem es um große
Themen geht, das sich aber dennoch als Weihnachtsgeschenk eignet. Vielleicht
entspricht das nicht den Idealen verknöcherter Avantgardisten, aber meine
Großmutter ist kaufkräftig. Zudem sind die Liebe, die Einsamkeit, die
Freundschaft, die Weltgeschichte und der Tod die wichtigen Themen, was soll ich
mich vor der Tatsache verstecken, und eventuell verarbeitet sogar Swjaginzew
einen meiner bedeutenden, aber genießbaren Texte zu einem bedeutenden, aber
genießbaren Film, dass die tiefen, braungebrannten Furchen dieser Existenz den
erweiterten Intellektuellen im Innersten erschaudern lassen und nicken: Ja, so
ist es, das Leben. Leider ist es mir in den fünfzig Jahren meines Daseins als
zurückgezogener Gymnasiallehrer nie gelungen, ein solches Werk zu verfassen,
aber Lutz Seiler ist es geglückt, und das ist ein Glück.
Mit gestopftem Mund
gibt der Spötter allerdings zu, dass Kruso möglicherweise ein guter
Roman ist. Aber er drängt einem alle Zweifel wieder auf, ob das reicht und wozu
es reichen sollte und was ein guter Roman überhaupt wert ist und zuletzt was
ein guter Roman ist. Nun, zunächst von vorn, beginnen wir mit der gepflegten
Inhaltsangabe. 1989, Edgar, Ed, einem 24-jährigen Germanistikstudenten, wird
die Freundin von einer Straßenbahn überfahren, was ihn auf in den Selbstmord
treibt, ehe er doch sein Osterfest erlebt und den Entschluss fasst, sich nach
Hiddensee, dem Capri des Nordens, zu begeben, wo in mehr fantastischer als
realistischer, vermutlich magisch-realistischer Manier ein Ort der Freiheit
innerhalb der DDR entstanden ist, in der Gaststätte Klausner, in der Ed
anheuert und zum Blutsbruder Krusowitschs, Krusos, wird, wie Freitag sich zu
Crusoe verhält. Zwischendurch spricht Ed auch mit einem Fuchs an reiner Quelle.
Von überallher strömen Ostdeutsche nach Hiddensee, um in die Freiheit
überzusetzen, da sie doch auf der wilden Insel schon losgebunden frei sind!
Zuletzt haben alle den Klausner verlassen, nur noch Ed und Kruso sind da,
zuletzt nur noch Ed; er hat die Wende verschlafen.
Es ist einerseits
leicht ersichtlich, warum der Roman gut sein könnte. Er prägt sich in seiner
Gesamtheit ein; die Setzung von Hiddensee als wilder Insel à la Defoe ist
markant. Zudem ist er oblik gegen die Weltgeschichte gebaut und erlaubt auf
genuin literarische Art nur ungefähr und metaphorisch uneindeutig auf diese zu
reagieren, nichtsdestotrotz aber Gefühle von Einsamkeit, Verwirrung und
Freundschaft vor dem historischen Hintergrund zu fassen und dadurch auch den
Hintergrund in ein entsprechendes Licht zu setzen. Andererseits ist Kruso
sprachlich flach, sentimental, ein halbesoterisches Gebräu mit intellektuell
brackigem Gout. Besonders unerträglich sind die Szenen der Freundschaft,
natürlich, denn so gehört sich das, einer angespannten, zwischen Kruso und Ed: Ed
schnürte es die Kehle zu. Er wollte sich auf Kruso stürzen und schämte sich
sogleich dafür. Er konnte kaum atmen. Kein bester Freund mehr - von einer
Sekunde auf die andere. Nur ein Geduldeter. Weniger als das (231).
Scheinbar sind wir im Tatort-Drehbuch gelandet, oder zumindest riecht
man den modrigen Hollywoodschinken an seinem quietschenden Haken. Ähnlich
schlecht sind die unverständlich unironischen Cliffhanger, häufig eingepflanzt
in miserable Poesie: Der sonnenwarme Stein in seinem Rücken. Zuerst war es
ein Schauern; er konnte seine Haarwurzeln spüren. Dann ein sanfter, nichts als
angenehmer Druck; er begann unter den Augenlidern und zog von dort bis ins
Mark. Es war in ihm, es war da (237). Zuletzt kommen noch unsägliche
Mensch-Welt-Romanzen ins Spiel. Ich zitiere gleich den Anfang des Kapitels nach
obigem Cliffhanger: Alle tun nur so, dachte Ed. Er spreizte die Beine um
tiefer zu stehen. Er musste sich weit nach vorn beugen, abstützen und sein
Glied nach unten biegen, damit ein Winkel entstand, bei dem er nicht
hinausschoss über das Becken, den Klausner, ins Weltall (238). Generell
werden Verben verwendet wie im Kioskroman, wird Tiefsinn gepredigt wie bei
Rosamunde Pilcher, usw. Wenn also Kruso ein guter Roman ist, trotz
seiner sprachlichen Verflachung, dann stellt sich die Frage, was es überhaupt
noch wert ist, dass ein Roman gut ist. Sogar ein guter Roman scheint belanglos.
Ich habe fünf Stunden
Zeit. In diesen fünf Stunden könnte ich zur Geschichte des Ersten
Weltkrieges lesen, zum Verhältnis von modalen zu nichtmodalen
Eigenschaften - oder einen Roman. Weshalb sollte ich ausgerechnet den Roman
lesen? Die Antwort, dass der Roman mehr Vergnügen bereitet, kann ausgeklammert
werden. Erstens ist es sehr fraglich, ob er das wirklich tut, und zweitens
interessiert hier, mit welcher intellektuellen Rechtfertigung der Roman
zumindest manchmal vorzuziehen ist. Zwei weitere Antworten taugen ebenfalls
nicht, zum einen, dass ich historische, zum anderen, dass ich philosophische
Einsicht aus dem Roman gewinnen könnte. Historische und philosophische
Beschäftigung stehen ja ebenfalls zur Auswahl, und es wäre doch abenteuerlich
zu behaupten, ein Romancier könne philosophisch oder historisch mehr erreichen
als ein Philosoph oder Historiker (von einigen Ausnahmefällen vielleicht
abgesehen). Interessant ist, was der Roman Eigenständiges leisten kann. Auf so
kleinem Raum soll selbstverständlich nicht adäquat auf diese Frage eingegangen
werden, aber skizzenhaft Triviales reicht immerhin eine gewisse Strecke: Ein
Romancier kann anders mit Sprache arbeiten als ein Historiker oder Philosoph.
Der Fokus muss nicht auf vollständig rationalisierbaren Verknüpfungen ruhen.
Stattdessen steht dem Romancier das ganze über Jahrhunderte gewachsene
rhetorische Arsenal zur Verfügung, mit dem er Sätze formen, Motive arrangieren,
Metaphern aufnehmen und sprengen kann, um assoziativ das anzudeuten, was sich
einem analytischeren Diskurs entzieht.
Die Leistung ist also
in erster Linie eine sprachliche. Ein guter Romancier findet neue sprachliche
Mittel, mit denen er neuen Andeutungen Ausdruck verleihen kann. Da alle
sprachlichen Wendungen aber Ideen portieren, ist mit der Findung der Mittel die
Arbeit bereits geleistet. Es gibt keinen zweiten Schritt, in dem die gefundenen
Mittel inhaltlich angewandt werden müssen, die Anwendung ist in den Mitteln
enthalten. Der Romancier unterscheidet sich dadurch nicht wesentlich vom
Lyriker. Selbstverständlich ist die Form des Romans eine andere als die des
lyrischen Gedichtes und stellt eigene Anforderungen, aber der grundsätzliche
kompositorische Prozess bleibt derselbe, ganz wie die Symphonie eine andere
Gattung ist als das Lied und doch, auf genügsam abstrahierter Stufe, dieselben
Fähigkeiten verlangt. Natürlich wird sich zeigen, dass gewisse Mittel sich für
eine Gattung sehr, für eine andere gar nicht eignen, und deshalb sind die
wenigsten guten Romanciers gute Lyriker und umgekehrt. Aber all das sei
geschenkt. Lutz Seiler jedenfalls, als Lyriker und Romancier, sollte die
grundsätzliche Verwandtschaft von Gedicht und Roman besonders sympathisch sein.
Nun, weniger vage und assertorisch können die Gedanken im gegebenen Rahmen
nicht ausformuliert werden. Ich sollte also einen Roman lesen, eher als ein
historisches oder philosophisches Werk, wenn ich mich für die
ästhetisch-sprachliche Arbeit interessiere, die ein Schriftsteller leisten
kann.
Daraus folgt, dass ein
Roman, um intellektuell genügsam zu sein, sprachlich überzeugen muss. Es wäre
rätselhaft, wie ein Roman gut sein könnte, den man lieber nicht liest, weil man
dadurch seine Zeit und Energie, die man auf Geschichte oder Philosophie
verwenden könnte, verschwendete. D.h. es wäre rätselhaft, wie ein Roman gut
sein könnte, der intellektuell nicht genügt. Deshalb können wir festhalten,
dass ein guter Roman sprachlich überzeugen muss. O Wunder!, könnte es also
sein, dass Kruso doch kein guter Roman ist? O Wunder!, ja! Es wurden die
Gründe genannt, warum der Roman gut sein könnte, und vermutlich sind das die
Gründe, die ihm den Deutschen Buchpreis eingetragen haben. Aber die sprachliche
Verflachung von Kruso können wir jetzt als intellektuelle Fehlleistung
verstehen, und daraus erklärt sich auch, warum man sich so schwer tut, einen
Roman als gut zu bezeichnen, der sprachlich versagt. Die Abgegriffenheit der
Sprache konstituiert eine Abgegriffenheit der Themen, die sentimentale und
oberflächliche Wortwahl tritt als erzählerische Sentimentalität und
Oberflächlichkeit hervor, usw.
In Providence, RI,
meinem Exildomizil, tragen alle Damen jene grönländischen Daunenjacken mit dem
Abzeichen eines schmelzenden Eisbären auf einer oberen Patte am linken Arm. Als
ich zu Weihnachten in mein Wohnzimmer, Zürich, zurückkehrte, wo doch immer
alles seine Ordnung hat, stellte sich heraus, dass die Damen hier auch jene
Jacken tragen und die Herren sogar ebenfalls. Letzteres rechtfertigt mein im
Bizepszucken behavioristisch feststellbares Verlangen, dem nächstbesten Träger
(eben einem männlichen nur, denn ich bin Gentleman) dieses geschmacklosen
Undings die Schultern zu massieren. Nur, woher diese Aggression, Herr Kruso?
Ich treibe nicht genügend Sport. Das Schweizer Unihockeyteam könnte Ihre
Energie beispielsweise fruchtbar aufnehmen im Versuch gegen Schweden endlich
auch einmal ein Tor zu schießen. Auf dem Archipel des Sports, wo sich nur
Länder mit flächendeckendem öffentlichen Verkehr noch hinverirren, in der Welt
des Unihockey oder Kokosnussstoßens, da könnte ich, ein Schweizer, reüssieren
und meine Kräfte verwenden. Genau, lassen Sie doch die Versuche literarischer
Aufarbeitung, denn da sind die Amerikaner professioneller gedopt.
Nein, das soll nun wirklich niemand glauben. Das
craft beer aus Brooklyn schmeckt im Idealfall beinahe so gut wie
belgisches Bier, aber meist wie Abwasch. Es hat sich in deutschsprachigen
Feuilletons die Chimäre des durchwegs erfolgreichen amerikanischen Romans
herausgebildet, des Romans, der uns alles zu sagen hat, in technischer
Meisterschaft, und der doch ein Bestseller ist, dass Tausende ihn lesen. Der
Roman soll große Gefühle ansprechen, große Weltgeschichte aufgreifen, in großem
Bogen erzählt sein, aber spannend!, und vor allem wie ein Monolith auf der
Heide imponieren. In all dem, was ich dafür angeführt habe, dass Seiler einen
guten Roman geschrieben habe, verbinden sich pflichtgetreu die Punkte zum
vorgefertigten Bild dieser Chimäre. Nur, dieselben Gründe könnte man auch dafür
anführen, dass The Lord of the Rings ein guter Roman sei. Auch The
Lord of the Rings prägt sich gesamthaft ein, auch The Lord of the Rings erzählt oblik zum Weltgeschehen von der
Weltgeschichte, als Metapher auf den Zweiten Weltkrieg, usw. Damit sind wir in
den Gefilden so vollkommener intellektueller Banalität angekommen, dass man die
angeführten Kriterien für die Güte eines Romans nicht mehr ernst nehmen kann.
Die positiven Eigenschaften des Romans sind für eine Einschätzung nicht weiter
relevant. Die negativen allerdings behalten ihr Gewicht, und damit wäre auch
geklärt, dass Kruso zuletzt doch kein guter Roman ist. Wenn wir in
irgendeiner Weise noch an die intellektuelle Relevanz des Romans jenseits des
Zeitvertreibs glauben, sollten wir mehr Oswald Wiener lesen und weniger
Jonathan Franzen. Ich fordere Mut zum Eurotrash.