Donnerstag, 25. Dezember 2014

Roman, roman - Zu Lutz Seiler

Lutz Seiler, Kruso, Suhrkamp 2014.

Schon immer wollte ich einen Roman schreiben, d.h. ein Buch von fünfhundert Seiten, in dem es um große Themen geht, das sich aber dennoch als Weihnachtsgeschenk eignet. Vielleicht entspricht das nicht den Idealen verknöcherter Avantgardisten, aber meine Großmutter ist kaufkräftig. Zudem sind die Liebe, die Einsamkeit, die Freundschaft, die Weltgeschichte und der Tod die wichtigen Themen, was soll ich mich vor der Tatsache verstecken, und eventuell verarbeitet sogar Swjaginzew einen meiner bedeutenden, aber genießbaren Texte zu einem bedeutenden, aber genießbaren Film, dass die tiefen, braungebrannten Furchen dieser Existenz den erweiterten Intellektuellen im Innersten erschaudern lassen und nicken: Ja, so ist es, das Leben. Leider ist es mir in den fünfzig Jahren meines Daseins als zurückgezogener Gymnasiallehrer nie gelungen, ein solches Werk zu verfassen, aber Lutz Seiler ist es geglückt, und das ist ein Glück.

Mit gestopftem Mund gibt der Spötter allerdings zu, dass Kruso möglicherweise ein guter Roman ist. Aber er drängt einem alle Zweifel wieder auf, ob das reicht und wozu es reichen sollte und was ein guter Roman überhaupt wert ist und zuletzt was ein guter Roman ist. Nun, zunächst von vorn, beginnen wir mit der gepflegten Inhaltsangabe. 1989, Edgar, Ed, einem 24-jährigen Germanistikstudenten, wird die Freundin von einer Straßenbahn überfahren, was ihn auf in den Selbstmord treibt, ehe er doch sein Osterfest erlebt und den Entschluss fasst, sich nach Hiddensee, dem Capri des Nordens, zu begeben, wo in mehr fantastischer als realistischer, vermutlich magisch-realistischer Manier ein Ort der Freiheit innerhalb der DDR entstanden ist, in der Gaststätte Klausner, in der Ed anheuert und zum Blutsbruder Krusowitschs, Krusos, wird, wie Freitag sich zu Crusoe verhält. Zwischendurch spricht Ed auch mit einem Fuchs an reiner Quelle. Von überallher strömen Ostdeutsche nach Hiddensee, um in die Freiheit überzusetzen, da sie doch auf der wilden Insel schon losgebunden frei sind! Zuletzt haben alle den Klausner verlassen, nur noch Ed und Kruso sind da, zuletzt nur noch Ed; er hat die Wende verschlafen.

Es ist einerseits leicht ersichtlich, warum der Roman gut sein könnte. Er prägt sich in seiner Gesamtheit ein; die Setzung von Hiddensee als wilder Insel à la Defoe ist markant. Zudem ist er oblik gegen die Weltgeschichte gebaut und erlaubt auf genuin literarische Art nur ungefähr und metaphorisch uneindeutig auf diese zu reagieren, nichtsdestotrotz aber Gefühle von Einsamkeit, Verwirrung und Freundschaft vor dem historischen Hintergrund zu fassen und dadurch auch den Hintergrund in ein entsprechendes Licht zu setzen. Andererseits ist Kruso sprachlich flach, sentimental, ein halbesoterisches Gebräu mit intellektuell brackigem Gout. Besonders unerträglich sind die Szenen der Freundschaft, natürlich, denn so gehört sich das, einer angespannten, zwischen Kruso und Ed: Ed schnürte es die Kehle zu. Er wollte sich auf Kruso stürzen und schämte sich sogleich dafür. Er konnte kaum atmen. Kein bester Freund mehr - von einer Sekunde auf die andere. Nur ein Geduldeter. Weniger als das (231). 

Scheinbar sind wir im Tatort-Drehbuch gelandet, oder zumindest riecht man den modrigen Hollywoodschinken an seinem quietschenden Haken. Ähnlich schlecht sind die unverständlich unironischen Cliffhanger, häufig eingepflanzt in miserable Poesie: Der sonnenwarme Stein in seinem Rücken. Zuerst war es ein Schauern; er konnte seine Haarwurzeln spüren. Dann ein sanfter, nichts als angenehmer Druck; er begann unter den Augenlidern und zog von dort bis ins Mark. Es war in ihm, es war da (237). Zuletzt kommen noch unsägliche Mensch-Welt-Romanzen ins Spiel. Ich zitiere gleich den Anfang des Kapitels nach obigem Cliffhanger: Alle tun nur so, dachte Ed. Er spreizte die Beine um tiefer zu stehen. Er musste sich weit nach vorn beugen, abstützen und sein Glied nach unten biegen, damit ein Winkel entstand, bei dem er nicht hinausschoss über das Becken, den Klausner, ins Weltall (238). Generell werden Verben verwendet wie im Kioskroman, wird Tiefsinn gepredigt wie bei Rosamunde Pilcher, usw. Wenn also Kruso ein guter Roman ist, trotz seiner sprachlichen Verflachung, dann stellt sich die Frage, was es überhaupt noch wert ist, dass ein Roman gut ist. Sogar ein guter Roman scheint belanglos.

Ich habe fünf Stunden Zeit. In diesen fünf Stunden könnte ich zur Geschichte des Ersten Weltkrieges  lesen, zum Verhältnis von modalen zu nichtmodalen Eigenschaften - oder einen Roman. Weshalb sollte ich ausgerechnet den Roman lesen? Die Antwort, dass der Roman mehr Vergnügen bereitet, kann ausgeklammert werden. Erstens ist es sehr fraglich, ob er das wirklich tut, und zweitens interessiert hier, mit welcher intellektuellen Rechtfertigung der Roman zumindest manchmal vorzuziehen ist. Zwei weitere Antworten taugen ebenfalls nicht, zum einen, dass ich historische, zum anderen, dass ich philosophische Einsicht aus dem Roman gewinnen könnte. Historische und philosophische Beschäftigung stehen ja ebenfalls zur Auswahl, und es wäre doch abenteuerlich zu behaupten, ein Romancier könne philosophisch oder historisch mehr erreichen als ein Philosoph oder Historiker (von einigen Ausnahmefällen vielleicht abgesehen). Interessant ist, was der Roman Eigenständiges leisten kann. Auf so kleinem Raum soll selbstverständlich nicht adäquat auf diese Frage eingegangen werden, aber skizzenhaft Triviales reicht immerhin eine gewisse Strecke: Ein Romancier kann anders mit Sprache arbeiten als ein Historiker oder Philosoph. Der Fokus muss nicht auf vollständig rationalisierbaren Verknüpfungen ruhen. Stattdessen steht dem Romancier das ganze über Jahrhunderte gewachsene rhetorische Arsenal zur Verfügung, mit dem er Sätze formen, Motive arrangieren, Metaphern aufnehmen und sprengen kann, um assoziativ das anzudeuten, was sich einem analytischeren Diskurs entzieht.

Die Leistung ist also in erster Linie eine sprachliche. Ein guter Romancier findet neue sprachliche Mittel, mit denen er neuen Andeutungen Ausdruck verleihen kann. Da alle sprachlichen Wendungen aber Ideen portieren, ist mit der Findung der Mittel die Arbeit bereits geleistet. Es gibt keinen zweiten Schritt, in dem die gefundenen Mittel inhaltlich angewandt werden müssen, die Anwendung ist in den Mitteln enthalten. Der Romancier unterscheidet sich dadurch nicht wesentlich vom Lyriker. Selbstverständlich ist die Form des Romans eine andere als die des lyrischen Gedichtes und stellt eigene Anforderungen, aber der grundsätzliche kompositorische Prozess bleibt derselbe, ganz wie die Symphonie eine andere Gattung ist als das Lied und doch, auf genügsam abstrahierter Stufe, dieselben Fähigkeiten verlangt. Natürlich wird sich zeigen, dass gewisse Mittel sich für eine Gattung sehr, für eine andere gar nicht eignen, und deshalb sind die wenigsten guten Romanciers gute Lyriker und umgekehrt. Aber all das sei geschenkt. Lutz Seiler jedenfalls, als Lyriker und Romancier, sollte die grundsätzliche Verwandtschaft von Gedicht und Roman besonders sympathisch sein. Nun, weniger vage und assertorisch können die Gedanken im gegebenen Rahmen nicht ausformuliert werden. Ich sollte also einen Roman lesen, eher als ein historisches oder philosophisches Werk, wenn ich mich für die ästhetisch-sprachliche Arbeit interessiere, die ein Schriftsteller leisten kann.

Daraus folgt, dass ein Roman, um intellektuell genügsam zu sein, sprachlich überzeugen muss. Es wäre rätselhaft, wie ein Roman gut sein könnte, den man lieber nicht liest, weil man dadurch seine Zeit und Energie, die man auf Geschichte oder Philosophie verwenden könnte, verschwendete. D.h. es wäre rätselhaft, wie ein Roman gut sein könnte, der intellektuell nicht genügt. Deshalb können wir festhalten, dass ein guter Roman sprachlich überzeugen muss. O Wunder!, könnte es also sein, dass Kruso doch kein guter Roman ist? O Wunder!, ja! Es wurden die Gründe genannt, warum der Roman gut sein könnte, und vermutlich sind das die Gründe, die ihm den Deutschen Buchpreis eingetragen haben. Aber die sprachliche Verflachung von Kruso können wir jetzt als intellektuelle Fehlleistung verstehen, und daraus erklärt sich auch, warum man sich so schwer tut, einen Roman als gut zu bezeichnen, der sprachlich versagt. Die Abgegriffenheit der Sprache konstituiert eine Abgegriffenheit der Themen, die sentimentale und oberflächliche Wortwahl tritt als erzählerische Sentimentalität und Oberflächlichkeit hervor, usw.

In Providence, RI, meinem Exildomizil, tragen alle Damen jene grönländischen Daunenjacken mit dem Abzeichen eines schmelzenden Eisbären auf einer oberen Patte am linken Arm. Als ich zu Weihnachten in mein Wohnzimmer, Zürich, zurückkehrte, wo doch immer alles seine Ordnung hat, stellte sich heraus, dass die Damen hier auch jene Jacken tragen und die Herren sogar ebenfalls. Letzteres rechtfertigt mein im Bizepszucken behavioristisch feststellbares Verlangen, dem nächstbesten Träger (eben einem männlichen nur, denn ich bin Gentleman) dieses geschmacklosen Undings die Schultern zu massieren. Nur, woher diese Aggression, Herr Kruso? Ich treibe nicht genügend Sport. Das Schweizer Unihockeyteam könnte Ihre Energie beispielsweise fruchtbar aufnehmen im Versuch gegen Schweden endlich auch einmal ein Tor zu schießen. Auf dem Archipel des Sports, wo sich nur Länder mit flächendeckendem öffentlichen Verkehr noch hinverirren, in der Welt des Unihockey oder Kokosnussstoßens, da könnte ich, ein Schweizer, reüssieren und meine Kräfte verwenden. Genau, lassen Sie doch die Versuche literarischer Aufarbeitung, denn da sind die Amerikaner professioneller gedopt.

Nein, das soll nun wirklich niemand glauben. Das craft beer aus Brooklyn schmeckt im Idealfall beinahe so gut wie belgisches Bier, aber meist wie Abwasch. Es hat sich in deutschsprachigen Feuilletons die Chimäre des durchwegs erfolgreichen amerikanischen Romans herausgebildet, des Romans, der uns alles zu sagen hat, in technischer Meisterschaft, und der doch ein Bestseller ist, dass Tausende ihn lesen. Der Roman soll große Gefühle ansprechen, große Weltgeschichte aufgreifen, in großem Bogen erzählt sein, aber spannend!, und vor allem wie ein Monolith auf der Heide imponieren. In all dem, was ich dafür angeführt habe, dass Seiler einen guten Roman geschrieben habe, verbinden sich pflichtgetreu die Punkte zum vorgefertigten Bild dieser Chimäre. Nur, dieselben Gründe könnte man auch dafür anführen, dass The Lord of the Rings ein guter Roman sei. Auch The Lord of the Rings prägt sich gesamthaft ein, auch The Lord of the Rings erzählt oblik zum Weltgeschehen von der Weltgeschichte, als Metapher auf den Zweiten Weltkrieg, usw. Damit sind wir in den Gefilden so vollkommener intellektueller Banalität angekommen, dass man die angeführten Kriterien für die Güte eines Romans nicht mehr ernst nehmen kann. Die positiven Eigenschaften des Romans sind für eine Einschätzung nicht weiter relevant. Die negativen allerdings behalten ihr Gewicht, und damit wäre auch geklärt, dass Kruso zuletzt doch kein guter Roman ist. Wenn wir in irgendeiner Weise noch an die intellektuelle Relevanz des Romans jenseits des Zeitvertreibs glauben, sollten wir mehr Oswald Wiener lesen und weniger Jonathan Franzen. Ich fordere Mut zum Eurotrash.