Max Frisch, Aus dem Berliner Journal, Suhrkamp 2014.
Durch das
Grinsen eines papua-neuguineischen Standgongs klingt ein Hohlklang aus der
Vergangenheit: Frisch spricht wieder. Die Sperrfrist ist abgelaufen, und bis
auf einige aus Rechtsgründen gestrichene Passagen liegt das ganze Berliner Journal von 1973-4 auf dem
Tisch, a cenar teco. Über unseren
Köpfen, auf den Klavieren der Schweizer Literatur steht seit Jahrzehnten die
Büste Frischs, und in allen Träumen blickt sein Pferdekopf illuminiert durch
den Vorhang. Man muss also jede Gelegenheit ergreifen, um sich in Exorzismen zu
üben, Gelegenheiten wie diese.
Aber bevor wir
mit dem Gartenschlauch auf den Gipskopf zielen, werde er noch einmal ordentlich
bekränzt! Frischs Fähigkeit, Privat-Befindliches mit der politischen Weltschreibung zur Fabel zu verbinden, sticht in diesem
Tagebuch hervor wie in den besten seiner Texte. Vielleicht die beeindruckendste
Sequenz dieser Art ist die Beschreibung Zürichs, der Heimatstadt, deren
Straßen, Institutionen usw. persönliche Bekannte sind, als geteiltes Berlin:
Die beiden Hochschulen, wo ich noch studiert
habe, zeigte ich aus der Ferne; die Technische Hochschule und die Universität,
die letztere erweitert durch ein Hochhaus, das die Silhouette dominiert (ich
selber bin seinerzeit bei einem architektonischen Wettbewerb ausgeschieden und
zwar schon im ersten Rundgang, weil man eine solche Dominante keinesfalls
wollte) als sogenanntes Wahrzeichen von Ost-Zürich. Es fehlt nicht an
diesbezüglichen Witzen, die aber nichts ändern. Die Brücke, die den früheren
Hauptbahnhof mit Ost-Zürich verbindet, ist auch von Ost-Zürchern nur mit
besonderen Tagesscheinen zu betreten, daher meistens leer. Wie bei allen
Brücken sind die Pfeiler umwickelt mit verrostetem Stacheldraht. Die genaue
Anzahl Menschenopfer ist bekannt, wenn auch umstritten. Natürlich wird man von
Ausländern immer wieder danach befragt. Was das Leben betrifft, so hat es sich
hüben und drüben mit den Jahrzehnten eingespielt. Hüben und drüben sind die
Sorgen sehr verschieden, darüber wäre viel zu sagen. Es war ein regnerischer
Tag; mein ausländischer Gast knipste trotzdem, wo immer die Mauer zu sehen ist.
Was soll man noch sagen. Auch West-Zürich hat heute einen Hauptbahnhof, einen
neuen. Der Zürichberg, wo früher die Reichen wohnten, gehört heute zu
Ost-Zürich, die Banken an der Bahnhofstrasse hingegen zu West-Zürich. Alles in
allem kann man sagen, dass wir, im Gegensatz zu ausländischen Gästen, die Mauer
nicht grotesk finden. (s. 114)
Nirgends ist
die persönliche Geste fern, die das heroische Pathos einer entrückten Welt
bricht, hier, ganz alltäglich, bei mir, ja, auch meine Nase läuft. Kein Epos
kann sich entwickeln, und es bleibt uns die hingeworfene Fabel, um die
Welt usw. narrativ zu fassen, eine changierende und improvisierte Form. Aber
"die Welt usw." ist immer präsent, artikulierbar geworden durch die
Splitter aus Autobiographie und Fabel, ohne dass wir zu einem in Marmor
gehauenen Fries verpflichtet würden. Das ist Max Frischs Pop. Und es ist der
Pop, der einem vermeintlich Instrumente gegen Thomas Mann oder Robert Musil in
die Hände gibt und ihr ironisiertes, aber ernsthaftes episches Pathos, von
Schiller und C.F. Meyer gar nicht zu reden. Es ist eine fantastische
Entdeckung, wenn man erstmals Frisch liest, dass man jeden Anflug von Pathos
mit einem Hinweis auf seine Pickel vertreiben kann. Das Große wird mit dem
Kleinen aus der Stube gefegt, von Marmorbildern keine Spur mehr oder von
Turmgesellschaften, und das alles auch noch in schweizerisch gefärbter Diktion.
Das Weltproblem ist ein biographisches und das tragfähigste literarische Medium
das Tagebuch. Frischs brillanter Kniff war es, das Tagebuch und seine
Selbstbespiegelungs-mechanismen zur literarischen Form zu erheben, in seinen Tagebüchern genauso wie in seinen
Romanen und Erzählungen, um die bei einigen ins Lächerliche geglittene Welthaltigkeit subjektiv gebrochen zu rehabilitieren. So auch im Berliner Journal.
Nur tritt im Zuge dieser Anstrengungen eine neue Form des Pathos durch die Hintertür,
die heute einen Großteil der Literatur beherrscht, und für die der
Tagebuchschriftsteller Frisch hauptverantwortlich ist, nennen wir sie:
Flagellationspathos. Der Rückgriff auf persönliche Erlebnisse und
Befindlichkeiten endet gemeinhin im Jammerklang, der Turnschuh drücke, man
könne nicht schlafen, sei unbegabt, hässlich, faul und was man sonst so von
sich denkt (meistens zu recht). Das
Jammern ist das simple Ergebnis der Überbewertung des Subjektiven, das man als
Hellebarde gegen das objektive Habsburgerpathos aus der Esse gehoben hat. Das
Reiten zu Ross wurde lächerlich, also dachten wir beim Reiten zu Ross an unsere
Hämorrhoiden. Aber nun sind wir in den Gefilden des ewigen kläglichen
Selbstbezugs, und die Alltagsbanalität entschleiert sich als larmoyanter
Kitsch, als die Freude daran, in jeder Silbe den Oberton der eigenen Minderwertigkeitskomplexe mitschwingen zu lassen. Wir
flagellieren uns wie Märtyrer in spe,
offiziell, um der Welt und ihren Profanitäten zu entsagen, aber insgeheim, um
in der Welt aufzufallen und zur gefeierten Profanität zu werden. In jedem
Spiegel nur dein Gesicht; und schon ist das eitle Pathos zurück.
Wir dürfen die
Larmoyanz ruhig weit fassen. Aller persönlich gefärbte Erlebnisschmalz fällt
in diese Rubrik, genauso wie überflüssig qualifizierendes Wortstyropor, das
dazu dient, die eigene Attitüde zum Gesagten mit dem Marker zu erhellen.
Zudem kann auch der Grenzzaun zwischen Autor und Persona eingerissen werden,
stellenweise wenigstens. Die meiste Literatur, von der die Autoren in Anspruch
nehmen, sie sei durch die Maske gesprochen, definiert die vermeintliche Persona zu wenig klar, als dass man den Anspruch ästhetisch ernst nehmen könnte.
Die larmoyante Persona ist häufig niemand anderes als der larmoyante Autor, und damit hat
es sich. Zuletzt: Selbstverständlich ist nicht sämtliche Literatur dem
Frischpop verfallen, und selbstverständlich hat es längst eine Reaktion gegen
den literarischen Ich-Wahn gegeben. Aber das Phänomen ist immer noch oder
wieder zu weit verbreitet, um akut vom Aussterben bedroht zu sein.
Mit diesem
Styropor im Hinterkopf folgt ohne größere Analyse, oder vielleicht anstelle
einer größeren Analyse, eine Liste von Versatzstücken aus dem Berliner Journal, die man dem Flagellationspathos
zuordnen kann:
ich besitze nicht einmal mehr den Willen, ehrlich
zu sein, nicht einmal mir selbst gegenüber (s. 21)
ich schäme mich zu sagen, dass es ein Jaguar
gewesen ist (s. 24)
über die eigene Scheissfreundlichkeit gerät man
in Zorn (s. 29)
das glaube ich mir wirklich (s. 35)
aber auch das nicht ironisch gemeint (s. 35)
seit ich die Notizen, die anfallen, in ein
Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham (s. 38)
und mit Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf
andre, die auch tückisch sein kann, verhohlen, vor allem doch wieder ein
Selbstschutz (s. 38)
ich weiss jetzt, dass ich nicht schreibe, weil
ich andern irgendetwas zu sagen habe (s. 40)
Manuskript REGEN nicht wiederzulesen (s. 47)
die Langeweile zu leben. weil durch "leben"
kaum eine neue Erfahrung aufkommt. wenn es zu Erfahrungen kommt, so nur noch
durch Schreiben (s. 62)
Und so weiter,
und so fort. Frisch selbst ist die ästhetische Ungenügsamkeit dieser Pose wohl
auch bewusst. Zumindest hat er in einem seiner wehleidigeren Absätze ein "grau,
grau" gestrichen (Seite 82). Aber insgesamt
bleibt der Eindruck der verzagten Selbstreferenz, Betulichkeit, die eine ästhetische Reductio darstellt, wie
sie auf der heroisch-objektiven Seite kaum Hesse überbieten kann, wenn er seine
Helden in kalten Seen !ertrinken lässt.
Der Frischpop
verfehlt also sein Ziel und verströmt ein ebenso schauderhaftes Pathos
wie dasjenige, dem die Revolte galt. Was tun? Eine Möglichkeit wäre, zum
heroisch-objektiven Pathos zurückzukehren. Ähnliches hat vielleicht
Kracht versucht, aber dazu ein andermal. Analogie: In der Philosophie machen wir jetzt einfach wieder Metaphysik und lassen den linguistic turn hinter uns. Aber diese Umkehr wäre
bedauernswert. Die Ich-Literatur hat uns doch so viele schöne Formeln in die Hand gegeben! Wir würden den wehleidigen Narziss vermissen. Stattdessen schlage
ich vor, die Flagellationsliteratur als eigenes Genre blühen zu lassen.
"Ich glaube mir nichts" und "Ach, mich juckt der Hintern"
sind dann wie homerische Formeln zu behandeln, ohne spezifische
inhaltliche Relevanz, aber unschätzbar wichtig als Goldgrund der Ikone. Damit
hätten wir auch die Unterscheidung zwischen Persona und Autor rehabilitiert.
Das jammernde Ich wäre als genre-spezifischer Erzähler und damit als Persona
definiert. Und die Rachen der Larmoyanz wären umschifft. Natürlich bestünde dann
wiederum die Gefahr, dass man in den Abgrund des objektiven Pathos geschlürft
wird und auf dem Boden eines Hesseschen Sees zerschellt, aber auch dagegen,
vermute ich, hilft der UHU-Leim der Formelwelt.