Montag, 17. März 2014

Der schielende Narziss - Zu Perrets Anthologie "Moderne Poesie in der Schweiz"


Moderne Poesie in der Schweiz, Roger Perret (Hrsg.), Limmat Verlag 2013.

Das beste Buch der Schweiz, und damit der Welt, hat Roger Perret geschrieben. Denn da die Welt eine Collage ist, wie man weiß, und jede Collage eine Welt, und eine Anthologie eine Collage, weiß man mit Väterchen Benjamin, eine Anthologie sei ein Buch im Sinn, nach dem wir sehnen, ein Werk. Roger Perret hat also das beste Werk zur Schweiz geschrieben, und damit das beste Buch zur Welt. Die Standardaussage über die Schweizer Literatur ist, es gebe sie nicht. Die Gegenaussage kann man sich anhand dieser Anthologie zurechthäkeln: Es gibt sie, sie blickt gerade schräg an dir vorbei, Welt!

In Biel steht heutzutage eine Schreibschule für BA-Studenten. Viel interessanter war aber ihre inoffizielle Vorgängerin, die Irrenanstalt Waldau. Nein, die Schweiz ist kein Irrenhaus, und die Schweizer Literatur ist nicht irr, nur ihr bester Teil, wir, wir haben das Lötschentaler Grinsen an uns. Aus den Bergen herabgeklettert, gestern erst, o Welt!, umarme ich dich (mit gehörigem Abstand, dass ich deine Brüste, unzüchtig, nicht fühle) - wobei Silja Walter gerade Servietten bestickt - aber immerhin, o Sonne!, dein Wärmestab fährt in meine Iris, und wir tanzen mit dem Pferdehuf, o Huf! usw. Aber lassen wir diesen Unsinn.

Immerhin ist es, obwohl dumpf bekannt, doch überraschend, wieviele der Dichter in diesem Band spinnen und sponnen, auch über Walser, Glauser und Wölfli hinaus, in der Waldau und anderswo, im experimentellen Gestus weiterhin. Ohne jede Pathologisierung ist man zu einer Diagnose veranlasst, dass den Schweizern irgendwie trotz allem ein leicht schiefer Weltblick eigen ist, ein leichtes Schielen aus den Bergkesseln zur Sonne, Deutschschweizern auch ein sprachliches Hinken in der Hochsprache mit Holzbein, eine leichte Verrückung der Ansicht und Aussprache, ein Manierismus, eine vorgetäuschte Ungehobelt-, Unvereinbarkeit, alles vorgetäuscht als ein Klischee, in dem man sich eingerichtet hat, und trotzdem den Wahn im Sinn als nirgends endende Ironiespirale (Schwermut). Oder zumindest hätte ich die Schweizer gerne so und kann sie mir mithilfe dieser Anthologie so collagieren. Ich schreibe über die Schweiz, die mich interessiert.

Beginnen wir also mit zwei Gedichten aus der Waldau:

     ce roi                  qui     n'est       r i e n                             r i e n
                 et               moins               que                     r i e n
     de  la  m e r d e                          de  la  vache                           de   la
                 vache                                   de  la  merde
     de      la         sursursursur            m e r d e

                                                                       a passé             ce   matin

     ce premier
                       nom                                         est   là

     il n'y a          pas          de   présence           vivante

un tiers          d'un rien                                            mais   il   y   a

(Constance Schwartzlin-Berberat, s. 94)


N=Ha=angs=ssi, Aer ta=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, witt Witt;
N=Ha=angs=ssi, Aer fa=angs=Sie; N=Ha=angs=ssi, nitt gitt;
N=Ha=angs=ssi, Aer bra=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, ritt nitt;
Schittara i da, Krina=lina; G'wittara bi da, Fina griin.
N=Ha=angs=ssi, Aer wa=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, ? witt Chitt;
N=Ha=angs=ssi, Aer a=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, Schitt litt;
N=Ha=angs=ssi, Aer scha=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, bitt nitt;
Bi no Dina, zin o wie N; Schnitt itz, gritt.
Ist 32 Schläg Marsch. 1869.

(Adolf Wölfli, s. 40)

Die Versuchung, nach Originalität, Ausdruckskraft usw. zu rufen ist beinahe zu groß, um ihr nachzugeben, aber wenn man die hohen Worte als Negativa von Epigonalität und Schwachbrüstigkeit fasst, darf man es sich vielleicht doch leisten. Jedenfalls ist die Merkwürdigkeit dieser Gedichte, aus welcher Kondition heraus auch immer, so beklemmend wie befreit. Es sind Texte, die sich um sehr vieles, worum wir uns sonst kümmern, nicht scheren, besonders um die Angepasstheit, und ästhetische Kraft daraus gewinnen, dass die Logik ihres Aufbaus (man gestatte mir!) bis zur Unerschließbarkeit in sich geschlossen ist. Auf die Gefahr hin, dem Klischee der naiven Kunst zu verfallen, möchte man sagen, das Schielen hier sei echt und die Verrücktheit des Blicks unverfälscht. Aber wichtiger als Formeln der Wahrhaftigkeit ist der experimentelle Gestus, der Mut, eine Tradition weiterzuschreiben, statt sich in ihr niederzulassen wie in einem durchgesessenen Fauteuil, und diese Justierung der Tradition geschieht im Verändern des Gewohnten, darin, um die verhunzte Lichtermetapher weiterzuschreiben, die Augen leicht schräg auf den üblichen Gegenstand zu richten. Das Schielen des Wahnsinns ist dabei ein Instrument, ein anderes das nicht-naive Schielen der Avantgarde, sich leicht zu verrücken. Letzteres an drei Beispielen:

 I.
Foie de tortue verte truffé
Langouste à la mexicaine
Faisan de la Floride
Iguane sauce caraïbe
Gobmos et choux palmistes

V.
Ailerons de requin confits dans la saumure
Jeunes chiens mort-nés préparés au miel
Vin de riz aux violettes
Crème au cocon de ver a soie
Vers de terre salés et alcool de Kawa
Confiture d'algues marines

 (Blaise Cendrars, aus Menus, s. 19)


Die Strassen besassen das Aussehen von schöngeschriebenen
Adressen und dufteten wie Damenhandschuhe, und vom Wald,
durch den gerade Gassen sich wanden, sage ich nichts, da dies
ein Wagnis sein könnte, wohl aber lüge ich etwas über ihn, und
indem ich vor lauter blauer Verlogenheit weiss wie das himm-
lischschöne Gesichtchen eines auf dem Krankenbett ausge-
streckten Mädchens bin, ist der Wald feuerrot geworden, und
seine unzähligen Blätter scheinen mich einzuladen, an die Mög-
lichkeit zu denken, an das Stattgefundenhaben eines Abendes-
sens zu glauben, das vorhanden war und sich gleichzeitg nir-
gends entdecken liess. Gleiche ich nicht einem unausmessbar
tiefen Teich an reichen weichen Schweigsamkeiten, die sich aus
übereinandergestürzten Redseligkeiten zusammensetzen, und
sind diese Zeilen irgend etwas wert? Nein, gewiss nicht! Aber sie
sind ein Versuch, sich genial aufzuführen, und sollte ein solcher
Versuch nicht an sich eine Grandiosität sein? Ich ermordete
gestern nacht sämtliche sich in mir bis dahin aufgehalten ha-
benden Mordlüste und triefe jetzt noch vor Blut und streiche
mit der Schwarzheit dieser schwarzen Zeilen mein knallgelbes
Prosastück meinetwegen dunkelblau an. Gruses Gnusch, was
de bisch. Feine Huere, wo dr sid. D'Suppe isch verbrännt. Machet's
besser, wenn dr chönnt. Es isch nämlich cheibe schwär, verrückt
z'dichte.

(Robert Walser)


Aloyse, ou Wölfli, ou le musicien de Ballaigues, trépassés l'aurore aux doigts, avec des crayons de couleurs, mâchant mille fois leur rêves sur les mur de la cellule, sur le plancher, sur les cartons donnés par l'infirmier: la plus suisse de toutes les vies et de toutes les morts.

(Maurice Chappaz, aus La mort natale, s. 122)

Natürlich wäre es grundsätzlich absurd, die Verrücktheit der Avantgarde als schweizerisch zu beanspruchen. Aber wir folgen hier der Stipulation, dass die Schweiz die Welt ist, also folgt... Relevant für unsere Zwecke ist, dass sich das Schielen über den Wahnsinn hinaus bei den Gesunden manifestiert und dass die Merkwürdigkeit der Weltbetrachtung tiefer liegt als die Keller der Waldau. Man merkt dabei auch schon, dass der Schweizer Wahnsinn ein Konstrukt ist, ja, der Irre in der Zelle, Chappaz, das ist der Schweizer! Der Irre in der Zelle ist eine Erfindung des Irren in der Zelle, ein weltanschaulicher Kniff und eine self-fulfilling prophecy. Selbstverständlich konnte Dürrenmatt den Akkusativ vom Nominativ unterscheiden, nur passte das nicht in die Pose des abhandengekommenen, bernerisch verschleppten Schweizers. Nur war er dadurch auch der abhandengekommene Schweizer: Teil des Wahnsinns ist das vermeintliche Vorspielen des Nichtgespielten im Spiel, und wer wüsste das besser als Dürrenmatt. Ein Schweizer Schielen ist also erstens immer vorgespielt, zweitens immer tatsächlich und drittens: Drittens ist es ein Schielen auf sich selbst. Wir konstruieren uns nicht nur als Irre, sondern wir konstruieren uns auch als Schweizer. Kein Schweizer, der nicht andauernd über die Schweiz spricht, kein Schweizer, der nicht andauernd zur Schweiz schreibt, die Schweiz zum Problemfall, zum Patienten macht, um den Wahnsinn zu diagnostizieren (zu konstruieren), anhand dessen man sich auch als Schweizer konstruieren (diagnostizieren) kann. Der Schweizer steht auch deshalb schräg zur Welt, weil er immer auf sich selber schielt, sein Schweizersein. Robert Walser wechselt mit dem Wahnsinn in den Dialekt.

Nur, wozu tut das der Schweizer? Aus Effektsucht. Die Poesie funktioniert ganz gleich wie das Schweizern. Wir erzielen Effekt und gewinnen Aufmerksamkeit, weil wir mit den Wanderschuhen in den Ballsaal laufen. Sich schief zu stellen, merkwürdig aus den Augenwinkeln zu blinzeln, in Selbstreferenz und Weltblindheit, ist das beste Mittel, um herauszustechen. Allerdings kümmert es einen Schweizernden wenig, was die anderen denken. Wichtig ist nur, dass er oder sie denkt, die Welt dächte, der Schweizer sei besonders. Wir schielen aus Selbstverliebtheit zur Selbstdarstellung. Das Schielen hat tiefere Gründe als die Keller der Waldau und die Verrückspiele der Poesie. Nur einmal im Jahr fällt die Sonne durchs Martinsloch, und wir bücken uns all die Tage über dem Kohlfeld mit schiefen Augen, um den Moment nicht zu verpassen, den Moment des Strahlens, und tun ganz irr, um Papa Helios auch bestimmt auf uns zu lenken. Nun, das ist die moderne Schweiz, und das ist die moderne Poesie in der Schweiz.

Schubert wollte vor seinem Tod noch anständig den Kontrapunkt lernen, und wir wollen ihn ehren, indem wir den Kontrapunkt ehren. Nicht die ganze Schweiz ist irr. Im einen Fall muss man sagen, leider, im Fall nämlich der Ich-sitze-auf-dem-Balkon-und-fühle-mich-lyrisch-Lyrik. Die verrückte Schweiz ist positiv zu werten, denn immerhin ist sie interessant (oder lustig). Die Geranien- und Schrebergartenschweiz von Silja Walter, ach, lassen wir sie beiseite. Ich schreibe über die Schweiz, die mich interessiert. Im anderen Fall bietet sich die Interessenlage völlig anders dar. Es gibt auch eine klassizistische Schweiz der weiten Flächen und der Friedellschen Gipsköpfe. Der König der klassizistischen Schweiz ist selbstverständlich ein Tessiner, Giorgio Orelli:

Racontino 1947

I
 

Da molto tempo La stellate sera
è tra i miei libri perduit,
forse, per sempre.
Mi spiace per la dedica
distillata con tanta prudenza
sotto i miei occhi, a casa mia, d'estate:
"A Giorgio Orelli, poeta
nel senso della fresca giovinezza
che è in lui, questi versi
d'un uomo sempre proto ad ascoltare
le voci della rinascente primavera.
                      Francesco Chiesa."

II
 

Volevo un picchio verde sul mio tavolo
e andai nel bosco per prenderlo
e l'ebbi presto nel mirino: tranquillo
in cima a un larice, taceva, ma un attimo prima
che sparassi fuggì con quel suo trillo
che tanto piacque a Montale
su un albero più alto dove poteva anche meglio
ruggiungerlo la rosa, ma sul punto
di far fuoco di nuovo volò via
con trillo che sapeva die beffardo, che ancora cessò
sulla vetta d'un albero,
e perdurava il buffo inseguimento
quando, nel gran silenzio dell picchio, sentii delle voci,
parevano risate,
e vidi due giovanotti velluteggiare tra l'erica
e le betulle, due cacciatori che mi vennero allegri
incontro; di Sagno, disserio; dico: "Di Sagno? il paese
de Chiesa, Franceso, il poeta? Poco fa
gli avete fatto festa, per i settantacinque mi pare."
"Eh, se fosse per lui...", dice l'uno,
"somiglia a quello che ha inventato l'ostia";
e l'altro: "A Sagno avevamo la Posta
noi, mi ricordo, fin dentro alla guerra
al Chiesa dall' Italia arrivavano pacchi
e pacchi e pacchi..."
"Ah", dico, "libri,
saranno stati libri."

(ss.177-8)

Im Oberton hört man Horaz (und Petrarca usw.), die Heimatlandschaft, das Heimatgetier, der Lokaldichter, die lokale Jugend, ohne erkünstelte Zuspitzungen im ruhigen Fluss metrisch sicher dargestellt; die Politik im Hintergrund, doch präsent, die Wechsel von Beschreibung zu direkter Rede und umgekehrt, die Setzung der Sphragis, der Schnitt zwischen den Strophen ohne Entschuldigung selbstbewusst getroffen, das Biographische, Alltägliche, Politische in Ruhe aufeinander bezogen. So wie man es bei Horaz findet, wenn er Maecenas zum Abendessen einlädt... Es ist beiläufige, undramatische Lyrik, die durch Ausschluss aller Fanfarenstöße das Äußerste wagt, ohne sich in Weisheit oder Effekt in Phrasen einzubohren alles an der Oberfläche, tiefenlos zu belassen, klassizistisch eben. Diese Schweiz blickt so gerade in die Ebene, dass man an Bergkessel nicht dächte. Alles hat seinen gesicherten Ort, vom Verrückten ist keine Spur, von der Gummizelle und Nominativ-Akkusativ-Karussellen ahnt man nichts. Beinahe vermisst man das Verquere und Verschrobene bereits wieder, trotz aller Bewunderung für die Perfektion. Dann muss man sich in Erinnerung rufen, dass auch glattes Eis tief sein kann, und ich verneige mich vor dem Meister Orelli.

Doch Klassizismus erscheint auch anders, vielleicht in einer Gestalt, die synthetische Herzen wie meins glücklicher stimmt. Vielleicht auch in einer zukunftsweisenderen Gestalt, da er alte Formen und Gesten bedient, ohne die modernen Verrückungen zu übergehen. Es ist Zeit für Urs Allemann:

Alkäisch die achte

Das Herz dir ausreisst dass es zu wachsen nicht
den Rippenbunker und die Musik nicht mehr
hinauffliegt da die Zimmerdecke
dir in den Himmel und Wolkenbäche

an dir herunter während die Zunge noch
die Sonne wegkickt und das Wort Äther dich
so unbetäubt dass nie den Hirnstein
dir aus dem Schädel zu klopfen Töne

genug und Bilder wie sie dir augenlos
zusammenrascheln wenn im Vokabelsturm
du Dinge loslässt dass der Atem
durch dich hindurch in ein ander Ohr dich

zu stranden auf der Welle ob Regen du
ob Rückflussrinne wär es ein Körper wär
es Schlaf zu nennen wenn der Wind sich
um dich aus Pochen und ob es Haut wär

(s. 427)

Hier blickt der Schweizer in die Ebene und ist ruhigen Bluts, und doch schielt er froh, der Gipskopf schielt, und die Metopen verrutschen auf ihren Holzbeinen. Das Schielen nach sich selbst im Wasserspiegel, doch, ich glaube, auch das ist noch da, hier steht noch wunderbar der ganze Schweizer Narziss, nur hat er seinen Wahnsinn, seine Ironie, seine Schwermut in eine luzidere Form drapiert, die das Riechen in die Weite ohne Verzicht auf die Lötschentaler Maske erlaubt.

All das ist historische Betrachtung. So war die Schweizer Literatur und in ihr die Schweiz. Wie sie wird, wer weiß. Ich hoffe auf den Lötschentaler Klassizismus. Einstweilen aber ist Perrets Anthologie as Patientenakte unübertrefflich.

il s'évaderait à jamais
dans cet archipel de calme et de douceur
où les idiots peuvent marcher dans l'auréole
d'un soleil à eux seuls réservé
il posa sa tête sur le rail
l'âme en paix
comme un nouveau-né qui s'endort

(Francis Giauque, aus L'idiot du village, s. 127)