Sonntag, 5. Januar 2014

Biedermeierismus küssdiehandke - Zu Peter Handke

Peter Handke, Versuch über den Pilznarren, Suhrkamp 2013.

Zwischen zwei moosigen Baumstammhälften wurde mir, auf einer Lichtung, auf der man Rehe gewärtigt hätte, im modrig gespaltenen Holz ein sonderbares Gewächs offenbar, ein ganz in sich gewandtes, nur dem Inneren zugetanes wortloses Geschöpf, dessen äußere Hülle den Rückzug allen Betrachtern verkündete, in Farbe, Geruch und Form einzig und einzigartig bedacht: Ich fand den Großpilz der deutschen Literatur, dessen Eigenschaften beim Schmoren, Braten, Salatieren bereits so bekannt sind, dass ich mich kurz fassen und ihm lediglich einen Ortungschip einsetzen möchte, damit wir ihn wieder finden könnten, sollten wir ihn denn, den Wanderer durch deutsche Wälder, in einigen Jahren wieder finden wollen.

Am besten lässt sich Handke im Kontrast verorten. Felicitas Hoppe hat sich aus der traditionellen Moderne geschält und ihre neue, klassizistisch intakte Literatursprache in Hoppe gefunden. Ähnliches hat schon vor Jahrzehnten Handke getan. Bei beiden scheint das Bedürfnis vorhanden gewesen zu sein, sich über Anleihen bei älteren Traditionen der Stereotype der Moderne zu entledigen. Wir sehen also im Pilznarr den x-ten Betätigungstext für Handkes ursprünglich neuen Prosastil. Abgesehen von der Intention und Methode in der Stilfindung könnte sich dieser von Hoppes kaum mehr unterscheiden. Die Moderne, aus der Hoppe kam, ist eher die symbolistisch-surrealistische von Bachmann, diejenige, an der sich der junge Handke versuchte, die harttrocken-rapportartige Eichs, und vielleicht lässt sich auch daraus erklären, warum Hoppe sich nach einem kristallenen, Handke aber einem warmen Ton umsah, um sich weiterzuentwickeln, beide also nach einem ihrem ursprünglichen möglichst konträren. Fündig wurde Hoppe scheinbar im 18. Jahrhundert bei der Klassik, hingegen Handke im 19. Jahrhundert beim Biedermeier.

Aber bevor ich meinen Gaul weiter übers Feld jage, muss ich doch auch kenntlich machen, dass ich überhaupt auf einem Gaul sitze, da man sonst zu gute Laktatwerte von mir, meinem Tier, erwarten könnte. Die literaturhistorischen Labels nämlich, mit denen ich operiere, sind von Skorbut geplagt und wenig beißkräftig. Plattitüdenhaft kann man Charakterisierungsversuche unternehmen und einzelnen Epochen Attribute oder Autoren zuordnen, zum Beispiel der Klassik des 18. Jahrhunderts Leichtigkeit, Ironie, Klarheit im Satzbau, Welthaltigkeit und Extraversion in der Themenfindung und im gesamten intellektuellen Duktus, wie man sie bei Fielding, Sterne, Diderot, Voltaire, Wieland, Goethe ahnt; handkehrum Schwere, Ernsthaftigkeit, Umständlichkeit im Satzbau, Rückzug ins Detail der Kleinbürgerwohnung und Introversion dem Biedermeier und seinem Meister, Adalbert Stifter. Aber selbstverständlich werden sich für viele Kriterien Gegenbeispiele und für viele Autoren andere Epochenzuweisungen finden lassen. Goethe zum Beispiel ist ein echtes Schnabeltier, Klassiker aber auch Vorgänger des Biedermeier. Trotzdem werden diese Plattitüden hier, aus Faulheit und Einfallslosigkeit, Verwendung finden. Nehmen Sie bitte den Gaul als Geschenk meinerseits an, und behandeln Sie ihn entsprechend gütig.

Hoppe also schwingt sich von der Klassik beflügelt klassizistisch durch die Luft. In Hoppe ist ihre Prosa ist durchlässig, anscheinend substanzlos, ihre Figur saust durch die ganze Welt wie Voltaires Candide oder Johnsons Rasselas, alles steht auf Aufbruch aus der Heimat, leicht flügge geworden und auch im Ernst mit dem Helium der Ironie gefüllt. Mit Handke sammeln wir dagegen die Außenwelt ein, um sie in unseren Wohnzimmern aufzustellen, in Ruhe ernst zu betrachten, abzustauben, recht geordnet, von allen Einflüssen abgeschirmt, toten Schmetterling auf toten Schmetterling, glasierten Stein auf glasierten Stein, Pilz auf Pilz, dass die ganze Welt als kontrollierbare Miniatur vor uns steht, vom Kopfkissen aus sichtbar, als meine materialisierte interferenzfreie Gedankenwelt, in der jeder Schritt bedeutsam vor jeden Schritt gesetzt werden kann, weil luftdicht isoliert wurde. Handke also stapft vom Biedermeier beschuht durchs Wiesengras und frönt dem Biedermeierismus.

Im Panoramabild der zeitgenössischen Literatur stehen Klassizismus und Biedermeierismus vor allem der Postmoderne im engeren Sinne gegenüber, wie sie sich Setz oder auf ihre Weise auch Jelinek in der Tradition von Gaddis, Pynchon, Wallace und in der bewussten erblichen Nachfolge der Moderne erschreiben. Wenn wir den Klassizismus, der seine Arbeit als Kontrastfarbe geleistet hat, scheiden lassen, kann man fragen, wie sich Handkes Biedermeierismus in diesem Panoramabild ausnimmt. Zunächst kann man schon einmal festhalten, dass er sich wirklich ausnimmt, das heißt, dass er sich eine introvertierte, auf die Außenwelt nicht achtende, aber eine in aus sich heraus allem überlegene Einkehrung geordnete Position zuschreibt. Dazu passt der Versuch über den Pilznarren schön, die Geschichte eines Mannes, der "in die Pilze geht" und sammelnd die Welt über seinen Wüchslingen vergisst, bis Frau und Kinder ausziehen und er ganz allein in seiner Neurose hausen kann. Dieser eine Biedermeier, der Pilznarr, wird vom zweiten Biedermeier, dem Erzähler, idealtypisch dargestellt: 

Der Zwischenraum, wo er, so sein Wort mit der Zeit, "lagerte" und seine Gerichtsauftritte vorbereitete, wurde zugleich, wieder sein Wort, "simultan", sein Auslug-Sitz zu seinen Zeitgenossen. Das war beileibe keiner von den Hochsitzen, wie er und ich sie von den heimischen Waldrändern kannten, eher Hochstände, die oft bis in die Wipfel der Saumfichten reichten, für die Jäger und Heger, gegebenenfalls auch für Liebespaare. Und trotzdem, auf ebener Erde in dem Zwischenraum, als seinem höchsteigenen Bereich, wenn nicht Reich, lagernd, war ihm, als säße er erhöht über den Leuten, die im Lauf seiner Arbeitsstunden den Wald bevölkerten. (s. 107)

Der Erzähler ist nicht der Autor und seine Figuren noch viel weniger, aber der Stil ist zuletzt seiner, das Biedermeier dem Text mit Absicht vom Autor eingeschrieben, und im Falle Handkes seit Jahren. Man sollte also nicht von reiner Satire ausgehen. Aber was soll man dann von diesem verschwurbelten, betulichen Stil und Thema halten, diesem Anachronismus, dieser Weltentzogenheit und lächerlichen Ernsthaftigkeit? Zunächst: Handkes Biedermeierismus ist äußerst radikal und bewusst als radikal gesetzt. Handke hat sich entschieden so zu schreiben, und er weiß natürlich auch, wie schief in der Welt seine Prosa steht. Diese Literatur ist viel radikaler als die meiste vermeintliche cutting-edge-Schreiberei über Kindersoldaten in Afrika, viel ungewöhnlicher und mutiger, gerade weil sie allem Reißerischen sehr fern steht (sie steht ja allem sehr fern). Sie ist auch formvollendet, ihr Stil perfektioniert und durchwegs aufrechterhalten. Nicht einmal vollkommen ironiefrei ist sie, denn immerhin ist der beschriebene Biedermeier ein Narr, erbärmlich und vollkommen gescheitert. Aber gut, der Kleinbürger ergötzt sich ja auch gerne an anderen Kleinbürgern, die, anders als er, ihr Wohnzimmer tragisch eingebüsst haben. Der Text bleibt also, trotz der Anflüge von Ironie, weihepriesterlich lächerlich; nur meine ich das gar nicht sehr negativ. Stifter, einer meiner Hausgötter, ist der in beiden Sinnen des Wortes komischste Schriftsteller der Welt, erheiternd in seiner Spießigkeit, aber auch beeindruckend in seiner Konsequenz. Handke geht es recht ähnlich, und darin zeigt sich natürlich auch wieder die Perfektion seines Biedermeierismus. Wir lachen gegen seine Literatur, denn wir sind ja viel welthaltiger und ironischer, aber wir lachen herzlich, mit Jandl, ein herzliches küssdiehandke.