Donnerstag, 25. Dezember 2014

Roman, roman - Zu Lutz Seiler

Lutz Seiler, Kruso, Suhrkamp 2014.

Schon immer wollte ich einen Roman schreiben, d.h. ein Buch von fünfhundert Seiten, in dem es um große Themen geht, das sich aber dennoch als Weihnachtsgeschenk eignet. Vielleicht entspricht das nicht den Idealen verknöcherter Avantgardisten, aber meine Großmutter ist kaufkräftig. Zudem sind die Liebe, die Einsamkeit, die Freundschaft, die Weltgeschichte und der Tod die wichtigen Themen, was soll ich mich vor der Tatsache verstecken, und eventuell verarbeitet sogar Swjaginzew einen meiner bedeutenden, aber genießbaren Texte zu einem bedeutenden, aber genießbaren Film, dass die tiefen, braungebrannten Furchen dieser Existenz den erweiterten Intellektuellen im Innersten erschaudern lassen und nicken: Ja, so ist es, das Leben. Leider ist es mir in den fünfzig Jahren meines Daseins als zurückgezogener Gymnasiallehrer nie gelungen, ein solches Werk zu verfassen, aber Lutz Seiler ist es geglückt, und das ist ein Glück.

Mit gestopftem Mund gibt der Spötter allerdings zu, dass Kruso möglicherweise ein guter Roman ist. Aber er drängt einem alle Zweifel wieder auf, ob das reicht und wozu es reichen sollte und was ein guter Roman überhaupt wert ist und zuletzt was ein guter Roman ist. Nun, zunächst von vorn, beginnen wir mit der gepflegten Inhaltsangabe. 1989, Edgar, Ed, einem 24-jährigen Germanistikstudenten, wird die Freundin von einer Straßenbahn überfahren, was ihn auf in den Selbstmord treibt, ehe er doch sein Osterfest erlebt und den Entschluss fasst, sich nach Hiddensee, dem Capri des Nordens, zu begeben, wo in mehr fantastischer als realistischer, vermutlich magisch-realistischer Manier ein Ort der Freiheit innerhalb der DDR entstanden ist, in der Gaststätte Klausner, in der Ed anheuert und zum Blutsbruder Krusowitschs, Krusos, wird, wie Freitag sich zu Crusoe verhält. Zwischendurch spricht Ed auch mit einem Fuchs an reiner Quelle. Von überallher strömen Ostdeutsche nach Hiddensee, um in die Freiheit überzusetzen, da sie doch auf der wilden Insel schon losgebunden frei sind! Zuletzt haben alle den Klausner verlassen, nur noch Ed und Kruso sind da, zuletzt nur noch Ed; er hat die Wende verschlafen.

Es ist einerseits leicht ersichtlich, warum der Roman gut sein könnte. Er prägt sich in seiner Gesamtheit ein; die Setzung von Hiddensee als wilder Insel à la Defoe ist markant. Zudem ist er oblik gegen die Weltgeschichte gebaut und erlaubt auf genuin literarische Art nur ungefähr und metaphorisch uneindeutig auf diese zu reagieren, nichtsdestotrotz aber Gefühle von Einsamkeit, Verwirrung und Freundschaft vor dem historischen Hintergrund zu fassen und dadurch auch den Hintergrund in ein entsprechendes Licht zu setzen. Andererseits ist Kruso sprachlich flach, sentimental, ein halbesoterisches Gebräu mit intellektuell brackigem Gout. Besonders unerträglich sind die Szenen der Freundschaft, natürlich, denn so gehört sich das, einer angespannten, zwischen Kruso und Ed: Ed schnürte es die Kehle zu. Er wollte sich auf Kruso stürzen und schämte sich sogleich dafür. Er konnte kaum atmen. Kein bester Freund mehr - von einer Sekunde auf die andere. Nur ein Geduldeter. Weniger als das (231). 

Scheinbar sind wir im Tatort-Drehbuch gelandet, oder zumindest riecht man den modrigen Hollywoodschinken an seinem quietschenden Haken. Ähnlich schlecht sind die unverständlich unironischen Cliffhanger, häufig eingepflanzt in miserable Poesie: Der sonnenwarme Stein in seinem Rücken. Zuerst war es ein Schauern; er konnte seine Haarwurzeln spüren. Dann ein sanfter, nichts als angenehmer Druck; er begann unter den Augenlidern und zog von dort bis ins Mark. Es war in ihm, es war da (237). Zuletzt kommen noch unsägliche Mensch-Welt-Romanzen ins Spiel. Ich zitiere gleich den Anfang des Kapitels nach obigem Cliffhanger: Alle tun nur so, dachte Ed. Er spreizte die Beine um tiefer zu stehen. Er musste sich weit nach vorn beugen, abstützen und sein Glied nach unten biegen, damit ein Winkel entstand, bei dem er nicht hinausschoss über das Becken, den Klausner, ins Weltall (238). Generell werden Verben verwendet wie im Kioskroman, wird Tiefsinn gepredigt wie bei Rosamunde Pilcher, usw. Wenn also Kruso ein guter Roman ist, trotz seiner sprachlichen Verflachung, dann stellt sich die Frage, was es überhaupt noch wert ist, dass ein Roman gut ist. Sogar ein guter Roman scheint belanglos.

Ich habe fünf Stunden Zeit. In diesen fünf Stunden könnte ich zur Geschichte des Ersten Weltkrieges  lesen, zum Verhältnis von modalen zu nichtmodalen Eigenschaften - oder einen Roman. Weshalb sollte ich ausgerechnet den Roman lesen? Die Antwort, dass der Roman mehr Vergnügen bereitet, kann ausgeklammert werden. Erstens ist es sehr fraglich, ob er das wirklich tut, und zweitens interessiert hier, mit welcher intellektuellen Rechtfertigung der Roman zumindest manchmal vorzuziehen ist. Zwei weitere Antworten taugen ebenfalls nicht, zum einen, dass ich historische, zum anderen, dass ich philosophische Einsicht aus dem Roman gewinnen könnte. Historische und philosophische Beschäftigung stehen ja ebenfalls zur Auswahl, und es wäre doch abenteuerlich zu behaupten, ein Romancier könne philosophisch oder historisch mehr erreichen als ein Philosoph oder Historiker (von einigen Ausnahmefällen vielleicht abgesehen). Interessant ist, was der Roman Eigenständiges leisten kann. Auf so kleinem Raum soll selbstverständlich nicht adäquat auf diese Frage eingegangen werden, aber skizzenhaft Triviales reicht immerhin eine gewisse Strecke: Ein Romancier kann anders mit Sprache arbeiten als ein Historiker oder Philosoph. Der Fokus muss nicht auf vollständig rationalisierbaren Verknüpfungen ruhen. Stattdessen steht dem Romancier das ganze über Jahrhunderte gewachsene rhetorische Arsenal zur Verfügung, mit dem er Sätze formen, Motive arrangieren, Metaphern aufnehmen und sprengen kann, um assoziativ das anzudeuten, was sich einem analytischeren Diskurs entzieht.

Die Leistung ist also in erster Linie eine sprachliche. Ein guter Romancier findet neue sprachliche Mittel, mit denen er neuen Andeutungen Ausdruck verleihen kann. Da alle sprachlichen Wendungen aber Ideen portieren, ist mit der Findung der Mittel die Arbeit bereits geleistet. Es gibt keinen zweiten Schritt, in dem die gefundenen Mittel inhaltlich angewandt werden müssen, die Anwendung ist in den Mitteln enthalten. Der Romancier unterscheidet sich dadurch nicht wesentlich vom Lyriker. Selbstverständlich ist die Form des Romans eine andere als die des lyrischen Gedichtes und stellt eigene Anforderungen, aber der grundsätzliche kompositorische Prozess bleibt derselbe, ganz wie die Symphonie eine andere Gattung ist als das Lied und doch, auf genügsam abstrahierter Stufe, dieselben Fähigkeiten verlangt. Natürlich wird sich zeigen, dass gewisse Mittel sich für eine Gattung sehr, für eine andere gar nicht eignen, und deshalb sind die wenigsten guten Romanciers gute Lyriker und umgekehrt. Aber all das sei geschenkt. Lutz Seiler jedenfalls, als Lyriker und Romancier, sollte die grundsätzliche Verwandtschaft von Gedicht und Roman besonders sympathisch sein. Nun, weniger vage und assertorisch können die Gedanken im gegebenen Rahmen nicht ausformuliert werden. Ich sollte also einen Roman lesen, eher als ein historisches oder philosophisches Werk, wenn ich mich für die ästhetisch-sprachliche Arbeit interessiere, die ein Schriftsteller leisten kann.

Daraus folgt, dass ein Roman, um intellektuell genügsam zu sein, sprachlich überzeugen muss. Es wäre rätselhaft, wie ein Roman gut sein könnte, den man lieber nicht liest, weil man dadurch seine Zeit und Energie, die man auf Geschichte oder Philosophie verwenden könnte, verschwendete. D.h. es wäre rätselhaft, wie ein Roman gut sein könnte, der intellektuell nicht genügt. Deshalb können wir festhalten, dass ein guter Roman sprachlich überzeugen muss. O Wunder!, könnte es also sein, dass Kruso doch kein guter Roman ist? O Wunder!, ja! Es wurden die Gründe genannt, warum der Roman gut sein könnte, und vermutlich sind das die Gründe, die ihm den Deutschen Buchpreis eingetragen haben. Aber die sprachliche Verflachung von Kruso können wir jetzt als intellektuelle Fehlleistung verstehen, und daraus erklärt sich auch, warum man sich so schwer tut, einen Roman als gut zu bezeichnen, der sprachlich versagt. Die Abgegriffenheit der Sprache konstituiert eine Abgegriffenheit der Themen, die sentimentale und oberflächliche Wortwahl tritt als erzählerische Sentimentalität und Oberflächlichkeit hervor, usw.

In Providence, RI, meinem Exildomizil, tragen alle Damen jene grönländischen Daunenjacken mit dem Abzeichen eines schmelzenden Eisbären auf einer oberen Patte am linken Arm. Als ich zu Weihnachten in mein Wohnzimmer, Zürich, zurückkehrte, wo doch immer alles seine Ordnung hat, stellte sich heraus, dass die Damen hier auch jene Jacken tragen und die Herren sogar ebenfalls. Letzteres rechtfertigt mein im Bizepszucken behavioristisch feststellbares Verlangen, dem nächstbesten Träger (eben einem männlichen nur, denn ich bin Gentleman) dieses geschmacklosen Undings die Schultern zu massieren. Nur, woher diese Aggression, Herr Kruso? Ich treibe nicht genügend Sport. Das Schweizer Unihockeyteam könnte Ihre Energie beispielsweise fruchtbar aufnehmen im Versuch gegen Schweden endlich auch einmal ein Tor zu schießen. Auf dem Archipel des Sports, wo sich nur Länder mit flächendeckendem öffentlichen Verkehr noch hinverirren, in der Welt des Unihockey oder Kokosnussstoßens, da könnte ich, ein Schweizer, reüssieren und meine Kräfte verwenden. Genau, lassen Sie doch die Versuche literarischer Aufarbeitung, denn da sind die Amerikaner professioneller gedopt.

Nein, das soll nun wirklich niemand glauben. Das craft beer aus Brooklyn schmeckt im Idealfall beinahe so gut wie belgisches Bier, aber meist wie Abwasch. Es hat sich in deutschsprachigen Feuilletons die Chimäre des durchwegs erfolgreichen amerikanischen Romans herausgebildet, des Romans, der uns alles zu sagen hat, in technischer Meisterschaft, und der doch ein Bestseller ist, dass Tausende ihn lesen. Der Roman soll große Gefühle ansprechen, große Weltgeschichte aufgreifen, in großem Bogen erzählt sein, aber spannend!, und vor allem wie ein Monolith auf der Heide imponieren. In all dem, was ich dafür angeführt habe, dass Seiler einen guten Roman geschrieben habe, verbinden sich pflichtgetreu die Punkte zum vorgefertigten Bild dieser Chimäre. Nur, dieselben Gründe könnte man auch dafür anführen, dass The Lord of the Rings ein guter Roman sei. Auch The Lord of the Rings prägt sich gesamthaft ein, auch The Lord of the Rings erzählt oblik zum Weltgeschehen von der Weltgeschichte, als Metapher auf den Zweiten Weltkrieg, usw. Damit sind wir in den Gefilden so vollkommener intellektueller Banalität angekommen, dass man die angeführten Kriterien für die Güte eines Romans nicht mehr ernst nehmen kann. Die positiven Eigenschaften des Romans sind für eine Einschätzung nicht weiter relevant. Die negativen allerdings behalten ihr Gewicht, und damit wäre auch geklärt, dass Kruso zuletzt doch kein guter Roman ist. Wenn wir in irgendeiner Weise noch an die intellektuelle Relevanz des Romans jenseits des Zeitvertreibs glauben, sollten wir mehr Oswald Wiener lesen und weniger Jonathan Franzen. Ich fordere Mut zum Eurotrash.

Sonntag, 3. August 2014

In der Karawanserei - Zu Martin Mosebach und René Pollesch


Martin Mosebach, Das Blutbuchenfest, Hanser 2014.
René Pollesch, Kill Your Darlings - Stücke, Rowohlt 2014.

Martin Mosebach und René Pollesch haben sehr viel gemein. Nun gut, der eine gibt sich als Freund der blasierten Coolheit, der andere als konservativer Revoluzzer, aber es stehen beide idealtypisch auf ihren Sockeln. Pollesch ist der letzte Hipster, Mosebach der erste Gerechte dieser, deiner Republik, der eine steif aus Manierismus, der andere manieristisch aus Steifheit, und um ihr Spielbein streichen andächtig die Anhänger der jeweiligen Kochbücher (ob man mit Reis aus der Camargue oder Reis aus Thailand kocht, entscheidet alles). Es fällt schon fast zu leicht, sich über die Herren lustig zu machen. Grund genug, sie im folgenden ernstzunehmen und sich über sie lustig zu machen.

Martin Mosebach hat den klassischen Stil, wie wir ihn nach der Postmoderne schreiben können, souverän ausformuliert. Reich-Ranickis Bodhisattvas Fontane und Mann haben ihr Echo gefunden. In leichter Ironie wird das ernste Thema gesetzt, schön konstruiert mit erzählerischen Kontrapunkten hie und da, und zudem ist das ganze auch noch recht spannend. Im leider entsetzlich pathetisch betitelten Blutbuchenfest defiliert eine fiktive Frankfurter Gesellschaft leichtfüßig vor unseren Augen, während gleichzeitig der Balkankrieg ausbricht. Hauptfigur ist die bosnische Putzfrau Ivana, die die beiden Stränge zusammenführt, aber eigentlich steht der Erzähler im Zentrum, ein mäßig erfolgreicher Kunsthistoriker, der eine Ausstellung zu einem jugoslawischen Künstler kuratieren soll, wobei er sich ab und an verliebt. Das liest sich angenehm, die Figuren sind plastisch, der Satzfluss tadellos. Besonders die Selbstdarstellung des Kunsthistorikers ist im Grunde sehr gut. Es gelingt Mosebach, einen Intellektuellen, der sich in der Mediokrität gescheitert fühlt, ohne die übliche Wehleidigkeit zu zeigen. Nehmen wir zum Beispiel die Stelle, in der der Erzähler beschreibt, wie er ohnmächtig auf eine Brüskierung reagiert:

Ich war nicht einfach nur vor den Kopf gestoßen - nein, mein Verhalten gegenüber dieser Unverfrorenheit war für mich grundsätzlich bezeichnend. Ich habe der nackten Unverschämtheit nichts entgegenzusetzen. Man kann das verächtlich finden, man darf mich einen Waschlappen nennen - was in Rotzoffs Kreisen mit Gewißheit auch geschieht -, aber ich weiß es besser: Es ist ein staunendes Hingerissensein, das mich dann befällt. Ich trete gleichsam aus mir heraus und betrachte die Szene, in die ich da involviert bin, wie durch ein Mikroskop. Wie sich in dem Wassertropfen da alles beißt und frißt und manche kleinen Wesen nur zum Verschlingen und andere nur zum Verschlungenwerden dazusein scheinen. (ss. 354-55)

René Pollesch hat den hippen Stil, wie wir ihn nach der Postmoderne schreiben können, souverän ausformuliert. Das Äußerliche wird das Innerliche, Sentimentalität sentimental unterlaufen im Theoriegeschwafel, sinnentleert und wieder gefüllt im leierhaften Sermon und entrückten Figurenraum, in dem jeder jeder ist und alles verwirklicht. Man fühlt sich kollektiv verstanden durch oblik konkret Beispielhaftes, das die systematische Darlegung aus der Endlosschlaufe befreit und bodenständig herunterbricht (Gurke), in der Fallhöhe der Ironie. Es ist teilweise doch sehr gut, wie hier auf der Oberfläche der Dinge als Tiefsinn gesurft wird. Häufig lässt er vor Kulissen anderer Stücke, zum Beispiel von Brecht, spielen, und die Versuchung des Metatheaters wird angegangen, indem immer Metatheater gemacht wird. Zur Theatertheorie tritt dann noch die Sozialtheorie und die Politiktheorie, sodass diese Stücke nur aus Theorieplatten bestehen, die sich gegeneinander verschieben, oft auch in verschiedenen Stücken in der exakt gleichen Formulierung, etwa in bezug auf den Übergang des chinesischen Staates zum Kapitalismus, ohne einen verbindlich zu entlassen. Aber die Theorie interessiert auch gar nicht. Nur das Zeitgefühl der Figuren und Zuschauer, das sich in diesem Theoriegeschiebe zeigt, interessiert und bleibt am Ende der Stücke. Er trifft uns mit unseren coiffierten Bärten so, dass man, wie man Aristophanes lesen soll, um das Athen des fünften Jahrhunderts zu verstehen, Pollesch lesen könnte, um das Berlin des 21. Jahrhunderts zu antizipieren. Zur Illustration könnte man diesen Ausschnitt aus der, sagen wir, Bergpredigt in Don Juan nach Molière vorlegen:

Weißt du, ich war der, der niederkniete wie zum Gebet und der dadurch glaubte. Egal, was in mir vorging, ob ich da Erbsen zählte oder so was. Mein Körper war ja bei der Sache, und das wird verkannt, wenn wir nach dem Echten fragen. Und der in der Tragödie, der kniet vor Turnschuhen nieder, mit seinem großen Gefühl für dich, und das macht ihn zu einem Schuhverkäufer. Kein Liebender. Die große Geschichte darf ruhig hohl bleiben. Wichtig ist, zu wissen, dass eine spezielle Liebe wie deine und seine, so einzigartig sie auch ist, für die Umstehenden aussieht wie die kleine Geschichte eines Schuhgeschäfts und den Menschen darin. Wir müssen auf die Gesten vertrauen. (s. 379)

Stilistisch tritt der Kontrast zwischen Pollesch und Mosebach hervor, wenn man sich ansieht, wie sie jeweils versuchen, gegenwärtig zu sein. Pollesch scheut keine Entsetzlichkeit, Dinge "machen Sinn", Leute "machen Geld", wo immer ein Anglizismus aufzutreiben ist, wird er aufgetrieben, "Fake-Donner" usw. Mosebach hingegen bemüht sich sehr, Zeitgenössisches klassizistisch abzufedern, Anglizismen einzudeutschen. Das Handy ist ein "Mobiltelephon", ferngesehen wird im "Rhythmus eines elektronischen Programms", etc. Auch sprachlich ist für Mosebach Tintoretto, was für Pollesch Lady Gaga ist. Wesentlich relevanter scheint allerdings, dass im stilistischen Kontrast die Grenzen des hippen und des klassischen Stils in ihrer Reinform offensichtlich werden. Pollesch und Mosebach schreiben die Stile möglichst professionell und konsistent; und dann verrutschen ihnen die Röcke doch.

Zunächst zu Pollesch: Ein hohler Satz bleibt ein hohler Satz, poetisch und theoretisch. Es ist sehr zu hoffen, dass ein Satz wie Kurt Gödel meinte, es gibt wahre Aussagen, die nicht belegbar sind nur als Witz eingebaut ist, aber man kann wenig auf die Hoffnung vertrauen, da zum Beispiel ebendieser Satz ernsthaft aufgenommen wird (in Don Juans Bergpredigt!): Es muss nicht mit Wahrheit belegt werden, um wahr zu sein. Demjenigen, was man bei Pollesch poetisch finden kann, haftet immer etwas von Ratgeber- und Weisheitsliteratur an. Natürlich ist das teilweise gewollt, aber mancherorts, fürchte ich, nicht ganz. Zudem wirkt die Coolness von Satzkonstellationen wie Da steht sie, die chinesische Führung. Hast du deine Vitamine genommen? (Fantasma, s. 53) doch auf Dauer arg forciert und ausgeleiert. Ja, so salopp kann man sein; sich auf nichts explizit Poetisches, Metaphern, schöne Sätze, einzulassen, Fälle nicht anzugleichen (denn wer tut das heute noch?). Nur, zuletzt ist das doch altes Brot, man backe mir einen Auflauf damit, bitte!, aber man präsentiere es mir nicht als frische Semmel.

Mosebachs Prosa ist da schon frischer in der Wangenröte eines Renaissancebrots (sic). Aber wie weit das klassische Programm trägt, ist fraglich. Immer wieder rutscht es in den Kitsch, ins beinahe unsäglich Abgegriffene und Klischierte. Schlimm sind weite Strecken des ersten Kapitels, in denen Ivana badet: In der duftenden öligen Wärme und im Spiel der Sonnenflecken löste sich diese Starre. Ivana lächelte. Sie lächelte sogar lieblich, ohne unmittelbaren Anlaß. Dies Lächeln gehörte nicht zu einem durch den Kopf ziehenden kleinen Gedanken, es wurde gleichsam von der ganzen Hautoberfläche hervorgebracht. Eine andere Möglichkeit zu sein tat sich auf. Sie plätscherte in der Wärme. Sie öffnete und schloß die Schenkel... (13) Aber auch später unterlaufen dem Autor Sätze, die einen schaudern lassen: War mit der Erinnerung an zigtausend aufgeschmauchte Zigaretten auch ihre Vorstellung vom eigenen Leben in Rauch aufgegangen? (335-36) Der gesuchte Stil, der sich zu großen Teilen einfach als Synonymalstil entpuppt, hat seine Wiedergeburt nur ramponiert überstanden; eine frische Semmel am Gehstock.

Im 20. Jahrhundert hat sich ein Gewirr von Stilen entwickelt. Wir warteten lange in der Karawanserei des Folgejahrhunderts, bis sich alle Stile durch die Wüste gerettet und gesund gepflegt hätten. Es ist ihnen geglückt, und der klassische, der hippe Stil und sämtliche Confratres schnarchen professionell mit ruhigem Puls; wir können sagen, es gehe ihnen gut, auch wenn man ihnen ihr Alter anriecht. Aber nach allzu langer Ruhe drückt die Matratze doch aufs Gesäß. Es ist Zeit, die Kamele wieder zu satteln. Und sei es auf die Gefahr hin, uns mit Stilblut (sic) zu besprengen oder auf einer Düne am Infarkt dahinzugehen.

Montag, 14. Juli 2014

Die Aufgabe der Dichtkunst - Zu Durs Grünbein

Durs Grünbein, Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond, Suhrkamp 2014.

Die Aufgabe der Dichtkunst ist wesentlich, so viel ist evident. Desweiteren ist aber weniger offensichtlich, worin sie bestehe in ihrer Wesentlichkeit. Nun, man pointilliere sich einen Pfad in die Leinwand. Durs Grünbein, vermutlich der bekannteste deutsche Dichter, den man 2014 noch einer Vivisektion unterziehen kann, hat einen neuen Gedichtband einschließlich eines Begleitessays verfasst. Er handelt vom Mond, und er portiert eine These. Systematisch werden die Krater des Mondes abgeklappert und unter den Titeln ihrer Namen von Thales bis Armstrong bedichtet. Einer der Krater heißt Cyrano, was Grünbein den Anlass gibt, Cyrano de Bergerac einzuweben, den selbst erfabelten Mondbesucher des 17. Jahrhunderts. Wie Grünbein in seinem Essay nahelegt, war Cyrano besonders bedacht, seine Rückkehr auf die Erde zu verhandeln. Daraus zieht Grünbein in seinen Gedichten die folgende Konsequenz, die These eben des Buches: Der Mond ist auf der Erde interessant, aber nicht auf dem Mond. Als Sehnsuchtsort und Projektionsfläche ist er erledigt, sobald der Mensch durch sein Geröll stapft.

Damit wäre ein möglicher Aufgabenbereich der Literatur gefunden, nämlich, eine Aussage über die Welt zu machen. Entsprechend neigt Grünbein auch zur Philosophiererei:

Wer kann durch das Fernrohr der Metaphern sehen,
In dem das Ferne nah – das Nächste fern erscheint,
Kausalitäten sich verknoten und Ereignisse?

Wie vieles übereinstimmt im Verschiedensein. (Tesauro, s. 12)

Ein großes Tier war dieses All, von Stern zu Made
Derselbe Zwischenraum. Man konnte in ihm baden. (Isidorus, s. 17)

Wußte er von der Vielheit der Welten? Wie Läuse
Den Wald auf dem Kopf eines Bettlers bewohnen,
Wirbelte mehr als nur ein Volk um die Sonne. (Grimaldi, s. 18)

Selbstverständlich möchte Grünbein ab und an den Titelhelden der Krater und Poeme seine Reverenz erweisen, indem er wiedergibt, was er für ihre denkerischen Kernpunkte hält. Aber das Verfahren wirkt zufällig. Manchmal geht er auf die Genannten ein, dann wiederum enthält er sich jeder Bezugnahme. Unter anderem deshalb, aber auch weil nur schon ein Ansatz zur Distanzierung von den Paraphrasen, sofern es sich denn um solche handelt, nicht zu erkennen wäre, scheinen die philosophierenden Passagen direkt vom Dichterich verantwortet. Leider bestehen sie aus nichts als möchtegern-profundem Nonsense (siehe oben); sie sind einfach enorm schlechte Philosophie. Sollte der Wert der Literatur sein, schlechte Philosophie anzubieten? Ich hoffe nicht. Parmenides hat seinerzeit gute Philosophie gedichtet, und es wäre vielleicht mit Mühe denkbar, dass jemand Ähnliches heute wieder geschehen lassen könnte, obwohl ich um die Existenz eines solchen Ambidextren nicht weiß. Jedenfalls ist Grünbein keiner von ihnen (siehe oben). Ich würde vorschlagen, die Philosophie den Philosophen zu überlassen und die Kosmologie den Physikern. Unsinnige Pseudoweisheiten, sofern ernst gemeint, sind unlesbar und verderben Gedichte.

Aber natürlich erschöpft sich Grünbein nicht im Maximenhaften. Vielleicht die am weitesten verbreitete Forderung an die Lyrik ist, dass sie Erlebnisse und Gefühle fassbar machen soll, die allen bekannt sind, aber gemeinhin nur vage getroffen werden. Bei Grünbein fungiert der Mond als Bezugspunkt für ein solches gemeinschaftlich menschliches Fühlen. Einerseits bietet er durch seine Ubiquität die Geborgenheit eines Fixpunkts, andererseits stellt sich angesichts seiner Kälte und Unvergänglichkeit Verlorenheit ein:

Vielleicht war er der Ruhepunkt, den alle suchten,
Ein Leben lang, und dann doch bald vergaßen.
Sie blickten auf und sahen – sahen ihn nicht mehr.
...
Ach ja, der Mond. Sie kannten ihn – das war
Dies bleiche Osterei. Es hing wie ausgeblasen
Über dem Lichterdunst der Städte, Jahr um Jahr. (Sacrobosco, s. 85)

Wer kann sagen, wie es auf dem Mond wohl roch?
...
Und kein meerweites Flüstern. Geologische Stille.
Nichts zum Erinnern – und nun? Keine Topographie
Für die Irrfahrt des Ichs, gebucht auf ein Du. (Hevelius, s. 86)

Solcher Appell ans Gemeinschaftsgefühl kann Trost leisten. Ich bin häufig traurig und weine in der Trauergondel vor mich hin; und dann hilft es, wenn man sieht, der andere habe auch schon als Mondlandschaft auf einem staubigen Marmorklotz gestanden, während vor seinen geschätzten Augen Brangelina umarmt durch lauwarm beschattete Lauben schlendert; es hilft also, wenn man sieht, es geht dem armen Tropf so wie mir.

Möchte man die Aufgabe der Musenkinder darin sehen, ein Gemeinschaftsgefühl gegen die Einsamkeit zu produzieren, besteht nur die Gefahr, dass sie doch wieder mit dem Weisheitendreschen zusammenfällt. Die Plattitüde „Das Menschsein ist ein Strudel im Siphon“ ist der Plattitüde „Ach, ich sehe deinen Rockzipfel, und mir wird so rosa“ an Plattitüdität nicht überlegen. Dann ist die Dichterei zwar nicht schlechte Philosophie, da sie gar nicht Philosophie ist, aber immerhin banal und langweilig, vielleicht etwa so wie empirische Ratgeberliteratur. Wiederum wäre zu hoffen, dass die Aufgabe von Lyrik nicht darin besteht, uns mit Binsen zu flagellieren.

Es gibt allerdings einen leichten Ausweg für Schriftsteller. Eine Binsenwahrheit wird interessant, wenn sie gut geschrieben ist, nicht propositional interessant, natürlich, aber poetisch interessant, und das ist doch alles, was man von der Poesie letztenendes erwarten darf. Wir sollen uns nicht alle in den Ästhetizismus flüchten, aber der Verdacht bleibt bestehen, dass das Eigenständige, das die Literatur leisten kann, im Grund sprachlich ist. Sie ist in der Lage, Justierungen an herkömmlichen Ausdrücken vorzunehmen und ihnen neuen Lack überzuziehen, und gelingt es ihr nicht, ist sie eben matt und schal. So gibt es eine Leere der poetischen Banalität geradeso wie der philosophischen. Es entspricht der banalen philosophischen Aussage der banale Satz, der Hausfrauenwahrheit die Hausfrauenidiomatik. Wenn wir von den momentan nicht verfügbaren ambidextren Poeten-Philosophen absehen und realistischere Ansprüche walten lassen, wäre also die Aufgabe des Dichters, keine sprachlich banalen Sätze zu schreiben.

Leider finden sich bei Grünbein wenige Sätze oder nur schon Wortgruppen, die davon zeugten, dass hier besonders interessant mit der Sprache gearbeitet wurde. Ein, zwei Hyperbata fallen auf, manchmal ein Aufprall der Ernsthaftigkeit im Bathos, aber insgesamt stößt einen doch beinahe nichts in interessante Richtungen; es mangelt an den kleinen Wendungen, durch die dem Bestehenden etwas Neues abgewonnen werden kann, und an Verknüpfungen, die nicht auf Anhieb offensichtlich gewesen wären. Einige Metaphern sind geglückt, bestimmt, und schlecht ist keines der Gedichte, dazu sind sie zu professionell konstruiert. Aber zuletzt wird in diesem Band gedanklich wie sprachlich, philosophisch wie poetisch, nur das Hergebrachte repetiert. Daraus erwächst kein Trost und kein interessanter Platz für die Literatur.

Ich hätte gerne kleine Überrumplungen durch Verben, Nomen, leicht schräg über Hügel gleitende Präpositionen. Eine Imperfektion am richtigen Ort, ein umgebautes Idiom hie und da, daraus fliegen doch die Funken, mit deren Hilfe wir unsere Würste braten. Die Aufgabe der Dichtkunst ist, das Wassereis zu sein, das vom Stiel rutscht, ins Dekolleté.

Montag, 23. Juni 2014

Huere geil (der unpoetische Ton) - Zu Joachim Lottmann

Joachim Lottmann, Endlich Kokain, Kiepenheuer & Witsch 2014.

"Hoc et corpum meum" reclamat Cicero iridescens "et in farfalla solvibitur orbs" & exit. Jenes Buch ist so schlecht, dass es bereits wieder schlecht ist (und zwar noch schlechter). Wackel, wackel, kleiner Dackel!

der pontifex, cara Joachim, auferlegt dir (auch pontifexe hageln heiter) (asking for more sunset from the sunset is why my sun set) einen Tritt im Morgenrot.

Der Ton wäre unpoetisch, wenn er ein Ton wäre. Es ist schön, dass nicht alle den Urgrund beschwören (sancta profunditas), man schürfe mir unbedingt die Oberfläche, aber bitte sehr, es muss doch erst Lack auf dem Nagel sein, bevor man den Entferner applizieren kann.

Unser Erzähler sprüht vor Lustigkeit wie das Ice-Age-Nagetier mit seiner Disney-Haselnuss; ich kann mich vor Gähnen kaum halten. Es kichern alle Erbsen.

Xenia sah nun, wie dick er war, und das dämpfte die Stimmung. Ein Rückschlag! Aber Xenia konnte sowieso nicht mehr anders, als zu reden. - Nein, so schlecht schreiben kann doch kein Mensch, cara Joachim! (außer Hegemann)

"Panem nostrum supersubstantialem cotidianum da nobis hodie" & exit.

Sonntag, 15. Juni 2014

Der poetische Ton - Zu Dorothee Elmiger

Dorothee Elmiger, Schlafgänger, Dumont 2014.

Bis anhin hat Elmiger zwei Romane veröffentlicht, und es fällt auch noch nach dem zweiten, Schlafgänger, schwer, nur einen Satz von ihr zu finden, den man nicht verteidigen könnte. Höchstens die Plusquamperfektkaskade gegen Ende des zweiten Abschnitts auf Seite 13 ist fragwürdig; ansonsten ist der Text, in gewisser Weise, makellos. Zudem ist die Prosa, anders als bei Gstrein, auch mehr als lediglich handwerklich gut. Nahtlos und souverän in der Tonlage ist sie, in gewisser Weise, eigenständig, mit eigenem Duktus und eigenem Ziel.

Schlafgänger ist ein Konversationsstück. Verschiedene Figuren, nicht gerade Charaktere, sondern eher schemenhaft vorhandene Personen, Figuren also, unterhalten sich über Grenzen, Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum, aber vor allem konkret über Migrationsgrenzen, wie die kalifornisch-mexikanische Grenzlinie oder den Rheinhafen in Basel. Es erzählen ein Logistiker, eine Schriftstellerin usw. von ihren Eindrücken, Erlebnissen bezüglich Grenzen und verleihen dem Tagesgeschäft, wie es in Zeitungszitaten im Text aufblitzt, durch ihren suchenden, !mystisch suchenden Gestus, an der Grenze von Wirklichkeit und Traum eben, eine abgrundtiefe Bedeutung. Wie schon in der Einladung an die Waghalsigen, Elmigers erstem Roman, wird die Bedeutung, die sich in der Abgrundtiefe findet, nicht explizit, aber die Suggestion, dass die Bedeutung bedeutend ist, ist eindeutig: Wie die Waghalsigen, so schürfen auch die Schlafgänger an den Grundfesten der Welt.

Dazu wählt Elmiger, ebenfalls wie im Vorgängerroman, einen poetisch beschwörenden Ton, der sich sanftest wiegt. Wir kennen diesen Ton. Vielleicht ist schon die Anspielung im Titel auf Hermann Brochs Schlafwandler gewollt, aber bestimmt ist die Nähe zu Autoren wie Gerhard Meier oder, noch zeitgenössischer, Friederike Kretzen spürbar. Es ist der klassische Ton heutiger poetischer Romanschreibung und wirkt als solcher, in gewisser Weise, vorgefertigt. Denn seine Zutatenliste ist Allgemeingut: Zunächst treten die Protagonisten als Erzähler auf und werden nur vage charakterisiert, in dem Sinn eben, in dem sie, wie oben genannt, Figuren sind. Außerdem wird das Erzählte nicht gewertet, sondern verharrt, ganz Phänomen, in der Beschreibung. Schließlich herrscht die Parataxe, und mithilfe eines Kommaschwarms werden Impressionen wie in einem Verzeichnis aufgereiht und häufig auch refrainartig strukturiert, wie in einem Gedicht eben, vielleicht sogar einem homerischen.

Die Schlafgänger folgen der Zutatenliste, und doch ist der poetische Ton bei Elmiger besonders beeindruckend, dank der Perfektion der Wortsetzung und der erfrischenden Insistenz, mit der sie schreibt. Die Makellosigkeit oder Perfektion allerdings wird durch das übermäßige Vertrauen ins Parataktische leicht getrübt. Es scheint etwas gar einfach, die Schwierigkeiten der Prosa aufzulösen, indem man sich gar nicht erst an die wahren Gefahren, die Nuancen der Satzverbindungen, traut, und in gewisser Weise ist diese Einfachheit des Wegs zur Makellosigkeit ihr Makel. Andererseits ist die Insistenz im Verfahren doch wieder radikal und eigenwillig und dadurch die erreichte Perfektion zuletzt alles andere als das Ergebnis schriftstellerischer Gemütlichkeit. So treibt insgesamt die Insistenz diesen Text an und ringt dem standardisierten poetischen Ton einen wirklichen ab. Ich erinnere mich, dass ich bei Mayröcker von Insistenz gesprochen habe. Vielleicht ist auch diese Vergleichsgröße nicht völlig absurd. Um die bisherigen Bemerkungen greifbar zu machen, bittet ein Auszug zum Tanz:

Eine wahre Geschichte, sagte Esther und erhob sich: Mit einem befreundeten Kind bestieg ich ein Tretboot, wir stachen in See, links überholte ein Raddampfer, rechts lag das Haus, in dem einst Wagner wohnte, überall Alpgebirge, Schwäne umzirkelten das Boot, ich erklärte das Wort majestätisch, das Kind zog sogleich die Schuhe aus, wann immer ich das Steuer losließ, hielt es Richtung Süden, sodass wir uns Werftsteg und Bootshafen näherten, statt ins Offene hinauszuschippern, ich wies das Kind darauf hin und steuerte gegen, warum es unbedingt in diese Richtung fahren wolle, fragte ich, die Sicht war klar, die Vögel trillierten, das Kind zuckte mit den Schultern, es streckte die Füße zur Seite ins Wasser, der Winter ist vorbei, jubelte ich, sieh an, ein Ausflugsschiff namens Schiller passierte uns, das Kind trank Coca-Cola, über uns donnerte die Patrouille Suisse. Erst Tage später las ich zufällig, zu genau jener glänzenden Zeit, als das Kind Richtung Süden steuerte, die Alpen so majestätisch sich erhoben und das Ausflugsschiff den Quai verließ, sei am Werftsteg ein neunzehnjähriger Algerier (so schrieb die Zeitung) beim Schwimmen ertrunken. (s. 107)

Die Pointe hier ist ganz typisch. Oft wirft Elmiger Berichtfetzen ein, meistens mit Bezug zu Opfern der Migration, die im freien Fall aus der poetischen Lage ein hohles Schlucken auslösen. Mit diesem Effekt wird das Thema des Buches, denn es hat eben ein Thema, nämlich den globalisierten Flüchtling, angegangen. Das hohle Schlucken speist sich aus dem unmittelbaren Nebeneinander des im Stacheldraht Zerfetzten mit der Krokusblüte und fügt sich so schön aus der parataktischen Poesie des Romans. Der Effekt ist bekannt, auch er gehört zum Standardrepertoire des poetischen Tons, wie er, wenn auch weniger tagespolitisch, von Gerhard Meier gepflegt wurde. Die Frage ist, ob der poetische Ton zur Behandlung eines Themas wie der Migration geeignet ist, und die Antwortet lautet, nein. Man soll nicht gleich nach Reporterhärte schreien oder sich das wunderbare Hackebeil Jelineks wünschen, aber etwas mehr Konfrontation mit der Politik, wenn denn schon Politik sein soll, täte gut. Nur einfach Zitate in den Text einzulassen, als poetischen Kontrapunkt, und sie, wie es der Ton befiehlt, schweben zu lassen, ist auf die Dauer dann doch zu bequem.

Ein warmer Nachmittag in der Hängematte, es raschelt ein Vögelein zwischen den Zweiglein, durch den schweren Fliederduft ziehen aus der Ferne Sirenen, ach, in der Ferne wird gekreischt, aber ich liege in der Watte des Konstatierens im Zitat und stoße mich mit den Zehenspitzen von der Kirschbaumrinde ins Schaukeln hin und her. Schlafgänger wäre wesentlich interessanter, wenn sich der poetische Ton ab und an unsanft angriffe, wenn, ja, auch der Kalauer ist ein Werkzeug, weniger in der Tiefe geschürft und mehr an der Oberfläche gekratzt würde.

Allgemeiner gesprochen vermisse ich, wovon ich bei Gernhardt et al. zuviel verabreicht bekomme, den Schalk. Die Homogenität des Textes ist, ich wiederhole mich, beeindruckend. Aber gleichzeitig zeigt er die Grenzen des poetischen Tons auf. Wenn alles Fliederduft ist, ist auch der Fliederduft fade. Etwas Esprit, Richtungswechsel, Registerwechsel, vielleicht sogar Brüche in der Perfektion täten gut. Hier unterscheidet sich Elmiger, nicht zum besseren, von Kronauer oder Hoppe, die den beschwörenden Klang auch beherrschen, ihn aber nicht als Allwürzmittel verwenden. Man sagt, ein guter Autor müsse seinen Stil finden, und möglicherweise ist das nicht falsch. Aber ein noch besserer Autor sollte auch zum Stilbruch bereit sein. Weniger klangschön wäre Schlafgänger ein noch besseres Buch, und vor allem eines, das seinem Thema adäquater würde.

Freitag, 11. April 2014

Larmoyanz - Zu Max Frisch


Max Frisch, Aus dem Berliner Journal, Suhrkamp 2014.

Durch das Grinsen eines papua-neuguineischen Standgongs klingt ein Hohlklang aus der Vergangenheit: Frisch spricht wieder. Die Sperrfrist ist abgelaufen, und bis auf einige aus Rechtsgründen gestrichene Passagen liegt das ganze Berliner Journal von 1973-4 auf dem Tisch, a cenar teco. Über unseren Köpfen, auf den Klavieren der Schweizer Literatur steht seit Jahrzehnten die Büste Frischs, und in allen Träumen blickt sein Pferdekopf illuminiert durch den Vorhang. Man muss also jede Gelegenheit ergreifen, um sich in Exorzismen zu üben, Gelegenheiten wie diese.

Aber bevor wir mit dem Gartenschlauch auf den Gipskopf zielen, werde er noch einmal ordentlich bekränzt! Frischs Fähigkeit, Privat-Befindliches mit der politischen Weltschreibung zur Fabel zu verbinden, sticht in diesem Tagebuch hervor wie in den besten seiner Texte. Vielleicht die beeindruckendste Sequenz dieser Art ist die Beschreibung Zürichs, der Heimatstadt, deren Straßen, Institutionen usw. persönliche Bekannte sind, als geteiltes Berlin:

Die beiden Hochschulen, wo ich noch studiert habe, zeigte ich aus der Ferne; die Technische Hochschule und die Universität, die letztere erweitert durch ein Hochhaus, das die Silhouette dominiert (ich selber bin seinerzeit bei einem architektonischen Wettbewerb ausgeschieden und zwar schon im ersten Rundgang, weil man eine solche Dominante keinesfalls wollte) als sogenanntes Wahrzeichen von Ost-Zürich. Es fehlt nicht an diesbezüglichen Witzen, die aber nichts ändern. Die Brücke, die den früheren Hauptbahnhof mit Ost-Zürich verbindet, ist auch von Ost-Zürchern nur mit besonderen Tagesscheinen zu betreten, daher meistens leer. Wie bei allen Brücken sind die Pfeiler umwickelt mit verrostetem Stacheldraht. Die genaue Anzahl Menschenopfer ist bekannt, wenn auch umstritten. Natürlich wird man von Ausländern immer wieder danach befragt. Was das Leben betrifft, so hat es sich hüben und drüben mit den Jahrzehnten eingespielt. Hüben und drüben sind die Sorgen sehr verschieden, darüber wäre viel zu sagen. Es war ein regnerischer Tag; mein ausländischer Gast knipste trotzdem, wo immer die Mauer zu sehen ist. Was soll man noch sagen. Auch West-Zürich hat heute einen Hauptbahnhof, einen neuen. Der Zürichberg, wo früher die Reichen wohnten, gehört heute zu Ost-Zürich, die Banken an der Bahnhofstrasse hingegen zu West-Zürich. Alles in allem kann man sagen, dass wir, im Gegensatz zu ausländischen Gästen, die Mauer nicht grotesk finden. (s. 114)

Nirgends ist die persönliche Geste fern, die das heroische Pathos einer entrückten Welt bricht, hier, ganz alltäglich, bei mir, ja, auch meine Nase läuft. Kein Epos kann sich entwickeln, und es bleibt uns die hingeworfene Fabel, um die Welt usw. narrativ zu fassen, eine changierende und improvisierte Form. Aber "die Welt usw." ist immer präsent, artikulierbar geworden durch die Splitter aus Autobiographie und Fabel, ohne dass wir zu einem in Marmor gehauenen Fries verpflichtet würden. Das ist Max Frischs Pop. Und es ist der Pop, der einem vermeintlich Instrumente gegen Thomas Mann oder Robert Musil in die Hände gibt und ihr ironisiertes, aber ernsthaftes episches Pathos, von Schiller und C.F. Meyer gar nicht zu reden. Es ist eine fantastische Entdeckung, wenn man erstmals Frisch liest, dass man jeden Anflug von Pathos mit einem Hinweis auf seine Pickel vertreiben kann. Das Große wird mit dem Kleinen aus der Stube gefegt, von Marmorbildern keine Spur mehr oder von Turmgesellschaften, und das alles auch noch in schweizerisch gefärbter Diktion. Das Weltproblem ist ein biographisches und das tragfähigste literarische Medium das Tagebuch. Frischs brillanter Kniff war es, das Tagebuch und seine Selbstbespiegelungs-mechanismen zur literarischen Form zu erheben, in seinen Tagebüchern genauso wie in seinen Romanen und Erzählungen, um die bei einigen ins Lächerliche geglittene Welthaltigkeit subjektiv gebrochen zu rehabilitieren. So auch im Berliner Journal.

Nur tritt im Zuge dieser Anstrengungen eine neue Form des Pathos durch die Hintertür, die heute einen Großteil der Literatur beherrscht, und für die der Tagebuchschriftsteller Frisch hauptverantwortlich ist, nennen wir sie: Flagellationspathos. Der Rückgriff auf persönliche Erlebnisse und Befindlichkeiten endet gemeinhin im Jammerklang, der Turnschuh drücke, man könne nicht schlafen, sei unbegabt, hässlich, faul und was man sonst so von sich denkt (meistens zu recht). Das Jammern ist das simple Ergebnis der Überbewertung des Subjektiven, das man als Hellebarde gegen das objektive Habsburgerpathos aus der Esse gehoben hat. Das Reiten zu Ross wurde lächerlich, also dachten wir beim Reiten zu Ross an unsere Hämorrhoiden. Aber nun sind wir in den Gefilden des ewigen kläglichen Selbstbezugs, und die Alltagsbanalität entschleiert sich als larmoyanter Kitsch, als die Freude daran, in jeder Silbe den Oberton der eigenen Minderwertigkeitskomplexe mitschwingen zu lassen. Wir flagellieren uns wie Märtyrer in spe, offiziell, um der Welt und ihren Profanitäten zu entsagen, aber insgeheim, um in der Welt aufzufallen und zur gefeierten Profanität zu werden. In jedem Spiegel nur dein Gesicht; und schon ist das eitle Pathos zurück.
Wir dürfen die Larmoyanz ruhig weit fassen. Aller persönlich gefärbte Erlebnisschmalz fällt in diese Rubrik, genauso wie überflüssig qualifizierendes Wortstyropor, das dazu dient, die eigene Attitüde zum Gesagten mit dem Marker zu erhellen. Zudem kann auch der Grenzzaun zwischen Autor und Persona eingerissen werden, stellenweise wenigstens. Die meiste Literatur, von der die Autoren in Anspruch nehmen, sie sei durch die Maske gesprochen, definiert die vermeintliche Persona zu wenig klar, als dass man den Anspruch ästhetisch ernst nehmen könnte. Die larmoyante Persona ist häufig niemand anderes als der larmoyante Autor, und damit hat es sich. Zuletzt: Selbstverständlich ist nicht sämtliche Literatur dem Frischpop verfallen, und selbstverständlich hat es längst eine Reaktion gegen den literarischen Ich-Wahn gegeben. Aber das Phänomen ist immer noch oder wieder zu weit verbreitet, um akut vom Aussterben bedroht zu sein.

Mit diesem Styropor im Hinterkopf folgt ohne größere Analyse, oder vielleicht anstelle einer größeren Analyse, eine Liste von Versatzstücken aus dem Berliner Journal, die man dem Flagellationspathos zuordnen kann:

ich besitze nicht einmal mehr den Willen, ehrlich zu sein, nicht einmal mir selbst gegenüber (s. 21)
ich schäme mich zu sagen, dass es ein Jaguar gewesen ist (s. 24)
über die eigene Scheissfreundlichkeit gerät man in Zorn (s. 29)
das glaube ich mir wirklich  (s. 35)
aber auch das nicht ironisch gemeint (s. 35)
seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham (s. 38)
und mit Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf andre, die auch tückisch sein kann, verhohlen, vor allem doch wieder ein Selbstschutz (s. 38)
ich weiss jetzt, dass ich nicht schreibe, weil ich andern irgendetwas zu sagen habe (s. 40)
Manuskript REGEN nicht wiederzulesen (s. 47)
die Langeweile zu leben. weil durch "leben" kaum eine neue Erfahrung aufkommt. wenn es zu Erfahrungen kommt, so nur noch durch Schreiben (s. 62)

Und so weiter, und so fort. Frisch selbst ist die ästhetische Ungenügsamkeit dieser Pose wohl auch bewusst. Zumindest hat er in einem seiner wehleidigeren Absätze ein "grau, grau" gestrichen (Seite 82). Aber insgesamt bleibt der Eindruck der verzagten Selbstreferenz, Betulichkeit, die eine ästhetische Reductio darstellt, wie sie auf der heroisch-objektiven Seite kaum Hesse überbieten kann, wenn er seine Helden in kalten Seen !ertrinken lässt.

Der Frischpop verfehlt also sein Ziel und verströmt ein ebenso schauderhaftes Pathos wie dasjenige, dem die Revolte galt. Was tun? Eine Möglichkeit wäre, zum heroisch-objektiven Pathos zurückzukehren. Ähnliches hat vielleicht Kracht versucht, aber dazu ein andermal. Analogie: In der Philosophie machen wir jetzt einfach wieder Metaphysik und lassen den linguistic turn hinter uns. Aber diese Umkehr wäre bedauernswert. Die Ich-Literatur hat uns doch so viele schöne Formeln in die Hand gegeben! Wir würden den wehleidigen Narziss vermissen. Stattdessen schlage ich vor, die Flagellationsliteratur als eigenes Genre blühen zu lassen. "Ich glaube mir nichts" und "Ach, mich juckt der Hintern" sind dann wie homerische Formeln zu behandeln, ohne spezifische inhaltliche Relevanz, aber unschätzbar wichtig als Goldgrund der Ikone. Damit hätten wir auch die Unterscheidung zwischen Persona und Autor rehabilitiert. Das jammernde Ich wäre als genre-spezifischer Erzähler und damit als Persona definiert. Und die Rachen der Larmoyanz wären umschifft. Natürlich bestünde dann wiederum die Gefahr, dass man in den Abgrund des objektiven Pathos geschlürft wird und auf dem Boden eines Hesseschen Sees zerschellt, aber auch dagegen, vermute ich, hilft der UHU-Leim der Formelwelt.

Montag, 17. März 2014

Der schielende Narziss - Zu Perrets Anthologie "Moderne Poesie in der Schweiz"


Moderne Poesie in der Schweiz, Roger Perret (Hrsg.), Limmat Verlag 2013.

Das beste Buch der Schweiz, und damit der Welt, hat Roger Perret geschrieben. Denn da die Welt eine Collage ist, wie man weiß, und jede Collage eine Welt, und eine Anthologie eine Collage, weiß man mit Väterchen Benjamin, eine Anthologie sei ein Buch im Sinn, nach dem wir sehnen, ein Werk. Roger Perret hat also das beste Werk zur Schweiz geschrieben, und damit das beste Buch zur Welt. Die Standardaussage über die Schweizer Literatur ist, es gebe sie nicht. Die Gegenaussage kann man sich anhand dieser Anthologie zurechthäkeln: Es gibt sie, sie blickt gerade schräg an dir vorbei, Welt!

In Biel steht heutzutage eine Schreibschule für BA-Studenten. Viel interessanter war aber ihre inoffizielle Vorgängerin, die Irrenanstalt Waldau. Nein, die Schweiz ist kein Irrenhaus, und die Schweizer Literatur ist nicht irr, nur ihr bester Teil, wir, wir haben das Lötschentaler Grinsen an uns. Aus den Bergen herabgeklettert, gestern erst, o Welt!, umarme ich dich (mit gehörigem Abstand, dass ich deine Brüste, unzüchtig, nicht fühle) - wobei Silja Walter gerade Servietten bestickt - aber immerhin, o Sonne!, dein Wärmestab fährt in meine Iris, und wir tanzen mit dem Pferdehuf, o Huf! usw. Aber lassen wir diesen Unsinn.

Immerhin ist es, obwohl dumpf bekannt, doch überraschend, wieviele der Dichter in diesem Band spinnen und sponnen, auch über Walser, Glauser und Wölfli hinaus, in der Waldau und anderswo, im experimentellen Gestus weiterhin. Ohne jede Pathologisierung ist man zu einer Diagnose veranlasst, dass den Schweizern irgendwie trotz allem ein leicht schiefer Weltblick eigen ist, ein leichtes Schielen aus den Bergkesseln zur Sonne, Deutschschweizern auch ein sprachliches Hinken in der Hochsprache mit Holzbein, eine leichte Verrückung der Ansicht und Aussprache, ein Manierismus, eine vorgetäuschte Ungehobelt-, Unvereinbarkeit, alles vorgetäuscht als ein Klischee, in dem man sich eingerichtet hat, und trotzdem den Wahn im Sinn als nirgends endende Ironiespirale (Schwermut). Oder zumindest hätte ich die Schweizer gerne so und kann sie mir mithilfe dieser Anthologie so collagieren. Ich schreibe über die Schweiz, die mich interessiert.

Beginnen wir also mit zwei Gedichten aus der Waldau:

     ce roi                  qui     n'est       r i e n                             r i e n
                 et               moins               que                     r i e n
     de  la  m e r d e                          de  la  vache                           de   la
                 vache                                   de  la  merde
     de      la         sursursursur            m e r d e

                                                                       a passé             ce   matin

     ce premier
                       nom                                         est   là

     il n'y a          pas          de   présence           vivante

un tiers          d'un rien                                            mais   il   y   a

(Constance Schwartzlin-Berberat, s. 94)


N=Ha=angs=ssi, Aer ta=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, witt Witt;
N=Ha=angs=ssi, Aer fa=angs=Sie; N=Ha=angs=ssi, nitt gitt;
N=Ha=angs=ssi, Aer bra=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, ritt nitt;
Schittara i da, Krina=lina; G'wittara bi da, Fina griin.
N=Ha=angs=ssi, Aer wa=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, ? witt Chitt;
N=Ha=angs=ssi, Aer a=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, Schitt litt;
N=Ha=angs=ssi, Aer scha=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, bitt nitt;
Bi no Dina, zin o wie N; Schnitt itz, gritt.
Ist 32 Schläg Marsch. 1869.

(Adolf Wölfli, s. 40)

Die Versuchung, nach Originalität, Ausdruckskraft usw. zu rufen ist beinahe zu groß, um ihr nachzugeben, aber wenn man die hohen Worte als Negativa von Epigonalität und Schwachbrüstigkeit fasst, darf man es sich vielleicht doch leisten. Jedenfalls ist die Merkwürdigkeit dieser Gedichte, aus welcher Kondition heraus auch immer, so beklemmend wie befreit. Es sind Texte, die sich um sehr vieles, worum wir uns sonst kümmern, nicht scheren, besonders um die Angepasstheit, und ästhetische Kraft daraus gewinnen, dass die Logik ihres Aufbaus (man gestatte mir!) bis zur Unerschließbarkeit in sich geschlossen ist. Auf die Gefahr hin, dem Klischee der naiven Kunst zu verfallen, möchte man sagen, das Schielen hier sei echt und die Verrücktheit des Blicks unverfälscht. Aber wichtiger als Formeln der Wahrhaftigkeit ist der experimentelle Gestus, der Mut, eine Tradition weiterzuschreiben, statt sich in ihr niederzulassen wie in einem durchgesessenen Fauteuil, und diese Justierung der Tradition geschieht im Verändern des Gewohnten, darin, um die verhunzte Lichtermetapher weiterzuschreiben, die Augen leicht schräg auf den üblichen Gegenstand zu richten. Das Schielen des Wahnsinns ist dabei ein Instrument, ein anderes das nicht-naive Schielen der Avantgarde, sich leicht zu verrücken. Letzteres an drei Beispielen:

 I.
Foie de tortue verte truffé
Langouste à la mexicaine
Faisan de la Floride
Iguane sauce caraïbe
Gobmos et choux palmistes

V.
Ailerons de requin confits dans la saumure
Jeunes chiens mort-nés préparés au miel
Vin de riz aux violettes
Crème au cocon de ver a soie
Vers de terre salés et alcool de Kawa
Confiture d'algues marines

 (Blaise Cendrars, aus Menus, s. 19)


Die Strassen besassen das Aussehen von schöngeschriebenen
Adressen und dufteten wie Damenhandschuhe, und vom Wald,
durch den gerade Gassen sich wanden, sage ich nichts, da dies
ein Wagnis sein könnte, wohl aber lüge ich etwas über ihn, und
indem ich vor lauter blauer Verlogenheit weiss wie das himm-
lischschöne Gesichtchen eines auf dem Krankenbett ausge-
streckten Mädchens bin, ist der Wald feuerrot geworden, und
seine unzähligen Blätter scheinen mich einzuladen, an die Mög-
lichkeit zu denken, an das Stattgefundenhaben eines Abendes-
sens zu glauben, das vorhanden war und sich gleichzeitg nir-
gends entdecken liess. Gleiche ich nicht einem unausmessbar
tiefen Teich an reichen weichen Schweigsamkeiten, die sich aus
übereinandergestürzten Redseligkeiten zusammensetzen, und
sind diese Zeilen irgend etwas wert? Nein, gewiss nicht! Aber sie
sind ein Versuch, sich genial aufzuführen, und sollte ein solcher
Versuch nicht an sich eine Grandiosität sein? Ich ermordete
gestern nacht sämtliche sich in mir bis dahin aufgehalten ha-
benden Mordlüste und triefe jetzt noch vor Blut und streiche
mit der Schwarzheit dieser schwarzen Zeilen mein knallgelbes
Prosastück meinetwegen dunkelblau an. Gruses Gnusch, was
de bisch. Feine Huere, wo dr sid. D'Suppe isch verbrännt. Machet's
besser, wenn dr chönnt. Es isch nämlich cheibe schwär, verrückt
z'dichte.

(Robert Walser)


Aloyse, ou Wölfli, ou le musicien de Ballaigues, trépassés l'aurore aux doigts, avec des crayons de couleurs, mâchant mille fois leur rêves sur les mur de la cellule, sur le plancher, sur les cartons donnés par l'infirmier: la plus suisse de toutes les vies et de toutes les morts.

(Maurice Chappaz, aus La mort natale, s. 122)

Natürlich wäre es grundsätzlich absurd, die Verrücktheit der Avantgarde als schweizerisch zu beanspruchen. Aber wir folgen hier der Stipulation, dass die Schweiz die Welt ist, also folgt... Relevant für unsere Zwecke ist, dass sich das Schielen über den Wahnsinn hinaus bei den Gesunden manifestiert und dass die Merkwürdigkeit der Weltbetrachtung tiefer liegt als die Keller der Waldau. Man merkt dabei auch schon, dass der Schweizer Wahnsinn ein Konstrukt ist, ja, der Irre in der Zelle, Chappaz, das ist der Schweizer! Der Irre in der Zelle ist eine Erfindung des Irren in der Zelle, ein weltanschaulicher Kniff und eine self-fulfilling prophecy. Selbstverständlich konnte Dürrenmatt den Akkusativ vom Nominativ unterscheiden, nur passte das nicht in die Pose des abhandengekommenen, bernerisch verschleppten Schweizers. Nur war er dadurch auch der abhandengekommene Schweizer: Teil des Wahnsinns ist das vermeintliche Vorspielen des Nichtgespielten im Spiel, und wer wüsste das besser als Dürrenmatt. Ein Schweizer Schielen ist also erstens immer vorgespielt, zweitens immer tatsächlich und drittens: Drittens ist es ein Schielen auf sich selbst. Wir konstruieren uns nicht nur als Irre, sondern wir konstruieren uns auch als Schweizer. Kein Schweizer, der nicht andauernd über die Schweiz spricht, kein Schweizer, der nicht andauernd zur Schweiz schreibt, die Schweiz zum Problemfall, zum Patienten macht, um den Wahnsinn zu diagnostizieren (zu konstruieren), anhand dessen man sich auch als Schweizer konstruieren (diagnostizieren) kann. Der Schweizer steht auch deshalb schräg zur Welt, weil er immer auf sich selber schielt, sein Schweizersein. Robert Walser wechselt mit dem Wahnsinn in den Dialekt.

Nur, wozu tut das der Schweizer? Aus Effektsucht. Die Poesie funktioniert ganz gleich wie das Schweizern. Wir erzielen Effekt und gewinnen Aufmerksamkeit, weil wir mit den Wanderschuhen in den Ballsaal laufen. Sich schief zu stellen, merkwürdig aus den Augenwinkeln zu blinzeln, in Selbstreferenz und Weltblindheit, ist das beste Mittel, um herauszustechen. Allerdings kümmert es einen Schweizernden wenig, was die anderen denken. Wichtig ist nur, dass er oder sie denkt, die Welt dächte, der Schweizer sei besonders. Wir schielen aus Selbstverliebtheit zur Selbstdarstellung. Das Schielen hat tiefere Gründe als die Keller der Waldau und die Verrückspiele der Poesie. Nur einmal im Jahr fällt die Sonne durchs Martinsloch, und wir bücken uns all die Tage über dem Kohlfeld mit schiefen Augen, um den Moment nicht zu verpassen, den Moment des Strahlens, und tun ganz irr, um Papa Helios auch bestimmt auf uns zu lenken. Nun, das ist die moderne Schweiz, und das ist die moderne Poesie in der Schweiz.

Schubert wollte vor seinem Tod noch anständig den Kontrapunkt lernen, und wir wollen ihn ehren, indem wir den Kontrapunkt ehren. Nicht die ganze Schweiz ist irr. Im einen Fall muss man sagen, leider, im Fall nämlich der Ich-sitze-auf-dem-Balkon-und-fühle-mich-lyrisch-Lyrik. Die verrückte Schweiz ist positiv zu werten, denn immerhin ist sie interessant (oder lustig). Die Geranien- und Schrebergartenschweiz von Silja Walter, ach, lassen wir sie beiseite. Ich schreibe über die Schweiz, die mich interessiert. Im anderen Fall bietet sich die Interessenlage völlig anders dar. Es gibt auch eine klassizistische Schweiz der weiten Flächen und der Friedellschen Gipsköpfe. Der König der klassizistischen Schweiz ist selbstverständlich ein Tessiner, Giorgio Orelli:

Racontino 1947

I
 

Da molto tempo La stellate sera
è tra i miei libri perduit,
forse, per sempre.
Mi spiace per la dedica
distillata con tanta prudenza
sotto i miei occhi, a casa mia, d'estate:
"A Giorgio Orelli, poeta
nel senso della fresca giovinezza
che è in lui, questi versi
d'un uomo sempre proto ad ascoltare
le voci della rinascente primavera.
                      Francesco Chiesa."

II
 

Volevo un picchio verde sul mio tavolo
e andai nel bosco per prenderlo
e l'ebbi presto nel mirino: tranquillo
in cima a un larice, taceva, ma un attimo prima
che sparassi fuggì con quel suo trillo
che tanto piacque a Montale
su un albero più alto dove poteva anche meglio
ruggiungerlo la rosa, ma sul punto
di far fuoco di nuovo volò via
con trillo che sapeva die beffardo, che ancora cessò
sulla vetta d'un albero,
e perdurava il buffo inseguimento
quando, nel gran silenzio dell picchio, sentii delle voci,
parevano risate,
e vidi due giovanotti velluteggiare tra l'erica
e le betulle, due cacciatori che mi vennero allegri
incontro; di Sagno, disserio; dico: "Di Sagno? il paese
de Chiesa, Franceso, il poeta? Poco fa
gli avete fatto festa, per i settantacinque mi pare."
"Eh, se fosse per lui...", dice l'uno,
"somiglia a quello che ha inventato l'ostia";
e l'altro: "A Sagno avevamo la Posta
noi, mi ricordo, fin dentro alla guerra
al Chiesa dall' Italia arrivavano pacchi
e pacchi e pacchi..."
"Ah", dico, "libri,
saranno stati libri."

(ss.177-8)

Im Oberton hört man Horaz (und Petrarca usw.), die Heimatlandschaft, das Heimatgetier, der Lokaldichter, die lokale Jugend, ohne erkünstelte Zuspitzungen im ruhigen Fluss metrisch sicher dargestellt; die Politik im Hintergrund, doch präsent, die Wechsel von Beschreibung zu direkter Rede und umgekehrt, die Setzung der Sphragis, der Schnitt zwischen den Strophen ohne Entschuldigung selbstbewusst getroffen, das Biographische, Alltägliche, Politische in Ruhe aufeinander bezogen. So wie man es bei Horaz findet, wenn er Maecenas zum Abendessen einlädt... Es ist beiläufige, undramatische Lyrik, die durch Ausschluss aller Fanfarenstöße das Äußerste wagt, ohne sich in Weisheit oder Effekt in Phrasen einzubohren alles an der Oberfläche, tiefenlos zu belassen, klassizistisch eben. Diese Schweiz blickt so gerade in die Ebene, dass man an Bergkessel nicht dächte. Alles hat seinen gesicherten Ort, vom Verrückten ist keine Spur, von der Gummizelle und Nominativ-Akkusativ-Karussellen ahnt man nichts. Beinahe vermisst man das Verquere und Verschrobene bereits wieder, trotz aller Bewunderung für die Perfektion. Dann muss man sich in Erinnerung rufen, dass auch glattes Eis tief sein kann, und ich verneige mich vor dem Meister Orelli.

Doch Klassizismus erscheint auch anders, vielleicht in einer Gestalt, die synthetische Herzen wie meins glücklicher stimmt. Vielleicht auch in einer zukunftsweisenderen Gestalt, da er alte Formen und Gesten bedient, ohne die modernen Verrückungen zu übergehen. Es ist Zeit für Urs Allemann:

Alkäisch die achte

Das Herz dir ausreisst dass es zu wachsen nicht
den Rippenbunker und die Musik nicht mehr
hinauffliegt da die Zimmerdecke
dir in den Himmel und Wolkenbäche

an dir herunter während die Zunge noch
die Sonne wegkickt und das Wort Äther dich
so unbetäubt dass nie den Hirnstein
dir aus dem Schädel zu klopfen Töne

genug und Bilder wie sie dir augenlos
zusammenrascheln wenn im Vokabelsturm
du Dinge loslässt dass der Atem
durch dich hindurch in ein ander Ohr dich

zu stranden auf der Welle ob Regen du
ob Rückflussrinne wär es ein Körper wär
es Schlaf zu nennen wenn der Wind sich
um dich aus Pochen und ob es Haut wär

(s. 427)

Hier blickt der Schweizer in die Ebene und ist ruhigen Bluts, und doch schielt er froh, der Gipskopf schielt, und die Metopen verrutschen auf ihren Holzbeinen. Das Schielen nach sich selbst im Wasserspiegel, doch, ich glaube, auch das ist noch da, hier steht noch wunderbar der ganze Schweizer Narziss, nur hat er seinen Wahnsinn, seine Ironie, seine Schwermut in eine luzidere Form drapiert, die das Riechen in die Weite ohne Verzicht auf die Lötschentaler Maske erlaubt.

All das ist historische Betrachtung. So war die Schweizer Literatur und in ihr die Schweiz. Wie sie wird, wer weiß. Ich hoffe auf den Lötschentaler Klassizismus. Einstweilen aber ist Perrets Anthologie as Patientenakte unübertrefflich.

il s'évaderait à jamais
dans cet archipel de calme et de douceur
où les idiots peuvent marcher dans l'auréole
d'un soleil à eux seuls réservé
il posa sa tête sur le rail
l'âme en paix
comme un nouveau-né qui s'endort

(Francis Giauque, aus L'idiot du village, s. 127)