Lutz Seiler, Kruso,
Suhrkamp 2014.
Schon immer wollte ich
einen Roman schreiben, d.h. ein Buch von fünfhundert Seiten, in dem es um große
Themen geht, das sich aber dennoch als Weihnachtsgeschenk eignet. Vielleicht
entspricht das nicht den Idealen verknöcherter Avantgardisten, aber meine
Großmutter ist kaufkräftig. Zudem sind die Liebe, die Einsamkeit, die
Freundschaft, die Weltgeschichte und der Tod die wichtigen Themen, was soll ich
mich vor der Tatsache verstecken, und eventuell verarbeitet sogar Swjaginzew
einen meiner bedeutenden, aber genießbaren Texte zu einem bedeutenden, aber
genießbaren Film, dass die tiefen, braungebrannten Furchen dieser Existenz den
erweiterten Intellektuellen im Innersten erschaudern lassen und nicken: Ja, so
ist es, das Leben. Leider ist es mir in den fünfzig Jahren meines Daseins als
zurückgezogener Gymnasiallehrer nie gelungen, ein solches Werk zu verfassen,
aber Lutz Seiler ist es geglückt, und das ist ein Glück.
Mit gestopftem Mund
gibt der Spötter allerdings zu, dass Kruso möglicherweise ein guter
Roman ist. Aber er drängt einem alle Zweifel wieder auf, ob das reicht und wozu
es reichen sollte und was ein guter Roman überhaupt wert ist und zuletzt was
ein guter Roman ist. Nun, zunächst von vorn, beginnen wir mit der gepflegten
Inhaltsangabe. 1989, Edgar, Ed, einem 24-jährigen Germanistikstudenten, wird
die Freundin von einer Straßenbahn überfahren, was ihn auf in den Selbstmord
treibt, ehe er doch sein Osterfest erlebt und den Entschluss fasst, sich nach
Hiddensee, dem Capri des Nordens, zu begeben, wo in mehr fantastischer als
realistischer, vermutlich magisch-realistischer Manier ein Ort der Freiheit
innerhalb der DDR entstanden ist, in der Gaststätte Klausner, in der Ed
anheuert und zum Blutsbruder Krusowitschs, Krusos, wird, wie Freitag sich zu
Crusoe verhält. Zwischendurch spricht Ed auch mit einem Fuchs an reiner Quelle.
Von überallher strömen Ostdeutsche nach Hiddensee, um in die Freiheit
überzusetzen, da sie doch auf der wilden Insel schon losgebunden frei sind!
Zuletzt haben alle den Klausner verlassen, nur noch Ed und Kruso sind da,
zuletzt nur noch Ed; er hat die Wende verschlafen.
Es ist einerseits
leicht ersichtlich, warum der Roman gut sein könnte. Er prägt sich in seiner
Gesamtheit ein; die Setzung von Hiddensee als wilder Insel à la Defoe ist
markant. Zudem ist er oblik gegen die Weltgeschichte gebaut und erlaubt auf
genuin literarische Art nur ungefähr und metaphorisch uneindeutig auf diese zu
reagieren, nichtsdestotrotz aber Gefühle von Einsamkeit, Verwirrung und
Freundschaft vor dem historischen Hintergrund zu fassen und dadurch auch den
Hintergrund in ein entsprechendes Licht zu setzen. Andererseits ist Kruso
sprachlich flach, sentimental, ein halbesoterisches Gebräu mit intellektuell
brackigem Gout. Besonders unerträglich sind die Szenen der Freundschaft,
natürlich, denn so gehört sich das, einer angespannten, zwischen Kruso und Ed: Ed
schnürte es die Kehle zu. Er wollte sich auf Kruso stürzen und schämte sich
sogleich dafür. Er konnte kaum atmen. Kein bester Freund mehr - von einer
Sekunde auf die andere. Nur ein Geduldeter. Weniger als das (231).
Scheinbar sind wir im Tatort-Drehbuch gelandet, oder zumindest riecht
man den modrigen Hollywoodschinken an seinem quietschenden Haken. Ähnlich
schlecht sind die unverständlich unironischen Cliffhanger, häufig eingepflanzt
in miserable Poesie: Der sonnenwarme Stein in seinem Rücken. Zuerst war es
ein Schauern; er konnte seine Haarwurzeln spüren. Dann ein sanfter, nichts als
angenehmer Druck; er begann unter den Augenlidern und zog von dort bis ins
Mark. Es war in ihm, es war da (237). Zuletzt kommen noch unsägliche
Mensch-Welt-Romanzen ins Spiel. Ich zitiere gleich den Anfang des Kapitels nach
obigem Cliffhanger: Alle tun nur so, dachte Ed. Er spreizte die Beine um
tiefer zu stehen. Er musste sich weit nach vorn beugen, abstützen und sein
Glied nach unten biegen, damit ein Winkel entstand, bei dem er nicht
hinausschoss über das Becken, den Klausner, ins Weltall (238). Generell
werden Verben verwendet wie im Kioskroman, wird Tiefsinn gepredigt wie bei
Rosamunde Pilcher, usw. Wenn also Kruso ein guter Roman ist, trotz
seiner sprachlichen Verflachung, dann stellt sich die Frage, was es überhaupt
noch wert ist, dass ein Roman gut ist. Sogar ein guter Roman scheint belanglos.
Ich habe fünf Stunden
Zeit. In diesen fünf Stunden könnte ich zur Geschichte des Ersten
Weltkrieges lesen, zum Verhältnis von modalen zu nichtmodalen
Eigenschaften - oder einen Roman. Weshalb sollte ich ausgerechnet den Roman
lesen? Die Antwort, dass der Roman mehr Vergnügen bereitet, kann ausgeklammert
werden. Erstens ist es sehr fraglich, ob er das wirklich tut, und zweitens
interessiert hier, mit welcher intellektuellen Rechtfertigung der Roman
zumindest manchmal vorzuziehen ist. Zwei weitere Antworten taugen ebenfalls
nicht, zum einen, dass ich historische, zum anderen, dass ich philosophische
Einsicht aus dem Roman gewinnen könnte. Historische und philosophische
Beschäftigung stehen ja ebenfalls zur Auswahl, und es wäre doch abenteuerlich
zu behaupten, ein Romancier könne philosophisch oder historisch mehr erreichen
als ein Philosoph oder Historiker (von einigen Ausnahmefällen vielleicht
abgesehen). Interessant ist, was der Roman Eigenständiges leisten kann. Auf so
kleinem Raum soll selbstverständlich nicht adäquat auf diese Frage eingegangen
werden, aber skizzenhaft Triviales reicht immerhin eine gewisse Strecke: Ein
Romancier kann anders mit Sprache arbeiten als ein Historiker oder Philosoph.
Der Fokus muss nicht auf vollständig rationalisierbaren Verknüpfungen ruhen.
Stattdessen steht dem Romancier das ganze über Jahrhunderte gewachsene
rhetorische Arsenal zur Verfügung, mit dem er Sätze formen, Motive arrangieren,
Metaphern aufnehmen und sprengen kann, um assoziativ das anzudeuten, was sich
einem analytischeren Diskurs entzieht.
Die Leistung ist also
in erster Linie eine sprachliche. Ein guter Romancier findet neue sprachliche
Mittel, mit denen er neuen Andeutungen Ausdruck verleihen kann. Da alle
sprachlichen Wendungen aber Ideen portieren, ist mit der Findung der Mittel die
Arbeit bereits geleistet. Es gibt keinen zweiten Schritt, in dem die gefundenen
Mittel inhaltlich angewandt werden müssen, die Anwendung ist in den Mitteln
enthalten. Der Romancier unterscheidet sich dadurch nicht wesentlich vom
Lyriker. Selbstverständlich ist die Form des Romans eine andere als die des
lyrischen Gedichtes und stellt eigene Anforderungen, aber der grundsätzliche
kompositorische Prozess bleibt derselbe, ganz wie die Symphonie eine andere
Gattung ist als das Lied und doch, auf genügsam abstrahierter Stufe, dieselben
Fähigkeiten verlangt. Natürlich wird sich zeigen, dass gewisse Mittel sich für
eine Gattung sehr, für eine andere gar nicht eignen, und deshalb sind die
wenigsten guten Romanciers gute Lyriker und umgekehrt. Aber all das sei
geschenkt. Lutz Seiler jedenfalls, als Lyriker und Romancier, sollte die
grundsätzliche Verwandtschaft von Gedicht und Roman besonders sympathisch sein.
Nun, weniger vage und assertorisch können die Gedanken im gegebenen Rahmen
nicht ausformuliert werden. Ich sollte also einen Roman lesen, eher als ein
historisches oder philosophisches Werk, wenn ich mich für die
ästhetisch-sprachliche Arbeit interessiere, die ein Schriftsteller leisten
kann.
Daraus folgt, dass ein
Roman, um intellektuell genügsam zu sein, sprachlich überzeugen muss. Es wäre
rätselhaft, wie ein Roman gut sein könnte, den man lieber nicht liest, weil man
dadurch seine Zeit und Energie, die man auf Geschichte oder Philosophie
verwenden könnte, verschwendete. D.h. es wäre rätselhaft, wie ein Roman gut
sein könnte, der intellektuell nicht genügt. Deshalb können wir festhalten,
dass ein guter Roman sprachlich überzeugen muss. O Wunder!, könnte es also
sein, dass Kruso doch kein guter Roman ist? O Wunder!, ja! Es wurden die
Gründe genannt, warum der Roman gut sein könnte, und vermutlich sind das die
Gründe, die ihm den Deutschen Buchpreis eingetragen haben. Aber die sprachliche
Verflachung von Kruso können wir jetzt als intellektuelle Fehlleistung
verstehen, und daraus erklärt sich auch, warum man sich so schwer tut, einen
Roman als gut zu bezeichnen, der sprachlich versagt. Die Abgegriffenheit der
Sprache konstituiert eine Abgegriffenheit der Themen, die sentimentale und
oberflächliche Wortwahl tritt als erzählerische Sentimentalität und
Oberflächlichkeit hervor, usw.
In Providence, RI,
meinem Exildomizil, tragen alle Damen jene grönländischen Daunenjacken mit dem
Abzeichen eines schmelzenden Eisbären auf einer oberen Patte am linken Arm. Als
ich zu Weihnachten in mein Wohnzimmer, Zürich, zurückkehrte, wo doch immer
alles seine Ordnung hat, stellte sich heraus, dass die Damen hier auch jene
Jacken tragen und die Herren sogar ebenfalls. Letzteres rechtfertigt mein im
Bizepszucken behavioristisch feststellbares Verlangen, dem nächstbesten Träger
(eben einem männlichen nur, denn ich bin Gentleman) dieses geschmacklosen
Undings die Schultern zu massieren. Nur, woher diese Aggression, Herr Kruso?
Ich treibe nicht genügend Sport. Das Schweizer Unihockeyteam könnte Ihre
Energie beispielsweise fruchtbar aufnehmen im Versuch gegen Schweden endlich
auch einmal ein Tor zu schießen. Auf dem Archipel des Sports, wo sich nur
Länder mit flächendeckendem öffentlichen Verkehr noch hinverirren, in der Welt
des Unihockey oder Kokosnussstoßens, da könnte ich, ein Schweizer, reüssieren
und meine Kräfte verwenden. Genau, lassen Sie doch die Versuche literarischer
Aufarbeitung, denn da sind die Amerikaner professioneller gedopt.
Nein, das soll nun wirklich niemand glauben. Das
craft beer aus Brooklyn schmeckt im Idealfall beinahe so gut wie
belgisches Bier, aber meist wie Abwasch. Es hat sich in deutschsprachigen
Feuilletons die Chimäre des durchwegs erfolgreichen amerikanischen Romans
herausgebildet, des Romans, der uns alles zu sagen hat, in technischer
Meisterschaft, und der doch ein Bestseller ist, dass Tausende ihn lesen. Der
Roman soll große Gefühle ansprechen, große Weltgeschichte aufgreifen, in großem
Bogen erzählt sein, aber spannend!, und vor allem wie ein Monolith auf der
Heide imponieren. In all dem, was ich dafür angeführt habe, dass Seiler einen
guten Roman geschrieben habe, verbinden sich pflichtgetreu die Punkte zum
vorgefertigten Bild dieser Chimäre. Nur, dieselben Gründe könnte man auch dafür
anführen, dass The Lord of the Rings ein guter Roman sei. Auch The
Lord of the Rings prägt sich gesamthaft ein, auch The Lord of the Rings erzählt oblik zum Weltgeschehen von der
Weltgeschichte, als Metapher auf den Zweiten Weltkrieg, usw. Damit sind wir in
den Gefilden so vollkommener intellektueller Banalität angekommen, dass man die
angeführten Kriterien für die Güte eines Romans nicht mehr ernst nehmen kann.
Die positiven Eigenschaften des Romans sind für eine Einschätzung nicht weiter
relevant. Die negativen allerdings behalten ihr Gewicht, und damit wäre auch
geklärt, dass Kruso zuletzt doch kein guter Roman ist. Wenn wir in
irgendeiner Weise noch an die intellektuelle Relevanz des Romans jenseits des
Zeitvertreibs glauben, sollten wir mehr Oswald Wiener lesen und weniger
Jonathan Franzen. Ich fordere Mut zum Eurotrash.
Donnerstag, 25. Dezember 2014
Sonntag, 3. August 2014
In der Karawanserei - Zu Martin Mosebach und René Pollesch
Martin Mosebach, Das Blutbuchenfest, Hanser 2014.
René Pollesch, Kill Your Darlings - Stücke, Rowohlt 2014.
Martin Mosebach und René Pollesch haben sehr viel gemein. Nun gut, der eine gibt sich als Freund der blasierten Coolheit, der andere als konservativer Revoluzzer, aber es stehen beide idealtypisch auf ihren Sockeln. Pollesch ist der letzte Hipster, Mosebach der erste Gerechte dieser, deiner Republik, der eine steif aus Manierismus, der andere manieristisch aus Steifheit, und um ihr Spielbein streichen andächtig die Anhänger der jeweiligen Kochbücher (ob man mit Reis aus der Camargue oder Reis aus Thailand kocht, entscheidet alles). Es fällt schon fast zu leicht, sich über die Herren lustig zu machen. Grund genug, sie im folgenden ernstzunehmen und sich über sie lustig zu machen.
Martin Mosebach hat den klassischen Stil, wie wir ihn nach der Postmoderne schreiben können, souverän ausformuliert. Reich-Ranickis Bodhisattvas Fontane und Mann haben ihr Echo gefunden. In leichter Ironie wird das ernste Thema gesetzt, schön konstruiert mit erzählerischen Kontrapunkten hie und da, und zudem ist das ganze auch noch recht spannend. Im leider entsetzlich pathetisch betitelten Blutbuchenfest defiliert eine fiktive Frankfurter Gesellschaft leichtfüßig vor unseren Augen, während gleichzeitig der Balkankrieg ausbricht. Hauptfigur ist die bosnische Putzfrau Ivana, die die beiden Stränge zusammenführt, aber eigentlich steht der Erzähler im Zentrum, ein mäßig erfolgreicher Kunsthistoriker, der eine Ausstellung zu einem jugoslawischen Künstler kuratieren soll, wobei er sich ab und an verliebt. Das liest sich angenehm, die Figuren sind plastisch, der Satzfluss tadellos. Besonders die Selbstdarstellung des Kunsthistorikers ist im Grunde sehr gut. Es gelingt Mosebach, einen Intellektuellen, der sich in der Mediokrität gescheitert fühlt, ohne die übliche Wehleidigkeit zu zeigen. Nehmen wir zum Beispiel die Stelle, in der der Erzähler beschreibt, wie er ohnmächtig auf eine Brüskierung reagiert:
Ich war nicht einfach nur vor den Kopf gestoßen - nein, mein Verhalten gegenüber dieser Unverfrorenheit war für mich grundsätzlich bezeichnend. Ich habe der nackten Unverschämtheit nichts entgegenzusetzen. Man kann das verächtlich finden, man darf mich einen Waschlappen nennen - was in Rotzoffs Kreisen mit Gewißheit auch geschieht -, aber ich weiß es besser: Es ist ein staunendes Hingerissensein, das mich dann befällt. Ich trete gleichsam aus mir heraus und betrachte die Szene, in die ich da involviert bin, wie durch ein Mikroskop. Wie sich in dem Wassertropfen da alles beißt und frißt und manche kleinen Wesen nur zum Verschlingen und andere nur zum Verschlungenwerden dazusein scheinen. (ss. 354-55)
René Pollesch hat den hippen Stil, wie wir ihn nach der Postmoderne schreiben können, souverän ausformuliert. Das Äußerliche wird das Innerliche, Sentimentalität sentimental unterlaufen im Theoriegeschwafel, sinnentleert und wieder gefüllt im leierhaften Sermon und entrückten Figurenraum, in dem jeder jeder ist und alles verwirklicht. Man fühlt sich kollektiv verstanden durch oblik konkret Beispielhaftes, das die systematische Darlegung aus der Endlosschlaufe befreit und bodenständig herunterbricht (Gurke), in der Fallhöhe der Ironie. Es ist teilweise doch sehr gut, wie hier auf der Oberfläche der Dinge als Tiefsinn gesurft wird. Häufig lässt er vor Kulissen anderer Stücke, zum Beispiel von Brecht, spielen, und die Versuchung des Metatheaters wird angegangen, indem immer Metatheater gemacht wird. Zur Theatertheorie tritt dann noch die Sozialtheorie und die Politiktheorie, sodass diese Stücke nur aus Theorieplatten bestehen, die sich gegeneinander verschieben, oft auch in verschiedenen Stücken in der exakt gleichen Formulierung, etwa in bezug auf den Übergang des chinesischen Staates zum Kapitalismus, ohne einen verbindlich zu entlassen. Aber die Theorie interessiert auch gar nicht. Nur das Zeitgefühl der Figuren und Zuschauer, das sich in diesem Theoriegeschiebe zeigt, interessiert und bleibt am Ende der Stücke. Er trifft uns mit unseren coiffierten Bärten so, dass man, wie man Aristophanes lesen soll, um das Athen des fünften Jahrhunderts zu verstehen, Pollesch lesen könnte, um das Berlin des 21. Jahrhunderts zu antizipieren. Zur Illustration könnte man diesen Ausschnitt aus der, sagen wir, Bergpredigt in Don Juan nach Molière vorlegen:
Weißt du, ich war der, der niederkniete wie zum Gebet und der dadurch glaubte. Egal, was in mir vorging, ob ich da Erbsen zählte oder so was. Mein Körper war ja bei der Sache, und das wird verkannt, wenn wir nach dem Echten fragen. Und der in der Tragödie, der kniet vor Turnschuhen nieder, mit seinem großen Gefühl für dich, und das macht ihn zu einem Schuhverkäufer. Kein Liebender. Die große Geschichte darf ruhig hohl bleiben. Wichtig ist, zu wissen, dass eine spezielle Liebe wie deine und seine, so einzigartig sie auch ist, für die Umstehenden aussieht wie die kleine Geschichte eines Schuhgeschäfts und den Menschen darin. Wir müssen auf die Gesten vertrauen. (s. 379)
Stilistisch tritt der Kontrast zwischen Pollesch und Mosebach hervor, wenn man sich ansieht, wie sie jeweils versuchen, gegenwärtig zu sein. Pollesch scheut keine Entsetzlichkeit, Dinge "machen Sinn", Leute "machen Geld", wo immer ein Anglizismus aufzutreiben ist, wird er aufgetrieben, "Fake-Donner" usw. Mosebach hingegen bemüht sich sehr, Zeitgenössisches klassizistisch abzufedern, Anglizismen einzudeutschen. Das Handy ist ein "Mobiltelephon", ferngesehen wird im "Rhythmus eines elektronischen Programms", etc. Auch sprachlich ist für Mosebach Tintoretto, was für Pollesch Lady Gaga ist. Wesentlich relevanter scheint allerdings, dass im stilistischen Kontrast die Grenzen des hippen und des klassischen Stils in ihrer Reinform offensichtlich werden. Pollesch und Mosebach schreiben die Stile möglichst professionell und konsistent; und dann verrutschen ihnen die Röcke doch.
Zunächst zu Pollesch: Ein hohler Satz bleibt ein hohler Satz, poetisch und theoretisch. Es ist sehr zu hoffen, dass ein Satz wie Kurt Gödel meinte, es gibt wahre Aussagen, die nicht belegbar sind nur als Witz eingebaut ist, aber man kann wenig auf die Hoffnung vertrauen, da zum Beispiel ebendieser Satz ernsthaft aufgenommen wird (in Don Juans Bergpredigt!): Es muss nicht mit Wahrheit belegt werden, um wahr zu sein. Demjenigen, was man bei Pollesch poetisch finden kann, haftet immer etwas von Ratgeber- und Weisheitsliteratur an. Natürlich ist das teilweise gewollt, aber mancherorts, fürchte ich, nicht ganz. Zudem wirkt die Coolness von Satzkonstellationen wie Da steht sie, die chinesische Führung. Hast du deine Vitamine genommen? (Fantasma, s. 53) doch auf Dauer arg forciert und ausgeleiert. Ja, so salopp kann man sein; sich auf nichts explizit Poetisches, Metaphern, schöne Sätze, einzulassen, Fälle nicht anzugleichen (denn wer tut das heute noch?). Nur, zuletzt ist das doch altes Brot, man backe mir einen Auflauf damit, bitte!, aber man präsentiere es mir nicht als frische Semmel.
Mosebachs Prosa ist da schon frischer in der Wangenröte eines Renaissancebrots (sic). Aber wie weit das klassische Programm trägt, ist fraglich. Immer wieder rutscht es in den Kitsch, ins beinahe unsäglich Abgegriffene und Klischierte. Schlimm sind weite Strecken des ersten Kapitels, in denen Ivana badet: In der duftenden öligen Wärme und im Spiel der Sonnenflecken löste sich diese Starre. Ivana lächelte. Sie lächelte sogar lieblich, ohne unmittelbaren Anlaß. Dies Lächeln gehörte nicht zu einem durch den Kopf ziehenden kleinen Gedanken, es wurde gleichsam von der ganzen Hautoberfläche hervorgebracht. Eine andere Möglichkeit zu sein tat sich auf. Sie plätscherte in der Wärme. Sie öffnete und schloß die Schenkel... (13) Aber auch später unterlaufen dem Autor Sätze, die einen schaudern lassen: War mit der Erinnerung an zigtausend aufgeschmauchte Zigaretten auch ihre Vorstellung vom eigenen Leben in Rauch aufgegangen? (335-36) Der gesuchte Stil, der sich zu großen Teilen einfach als Synonymalstil entpuppt, hat seine Wiedergeburt nur ramponiert überstanden; eine frische Semmel am Gehstock.
Im 20. Jahrhundert hat sich ein Gewirr von Stilen entwickelt. Wir warteten lange in der Karawanserei des Folgejahrhunderts, bis sich alle Stile durch die Wüste gerettet und gesund gepflegt hätten. Es ist ihnen geglückt, und der klassische, der hippe Stil und sämtliche Confratres schnarchen professionell mit ruhigem Puls; wir können sagen, es gehe ihnen gut, auch wenn man ihnen ihr Alter anriecht. Aber nach allzu langer Ruhe drückt die Matratze doch aufs Gesäß. Es ist Zeit, die Kamele wieder zu satteln. Und sei es auf die Gefahr hin, uns mit Stilblut (sic) zu besprengen oder auf einer Düne am Infarkt dahinzugehen.
Montag, 14. Juli 2014
Die Aufgabe der Dichtkunst - Zu Durs Grünbein
Durs Grünbein, Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond,
Suhrkamp 2014.
Die Aufgabe der
Dichtkunst ist wesentlich, so viel ist evident. Desweiteren ist aber weniger
offensichtlich, worin sie bestehe in ihrer Wesentlichkeit. Nun, man
pointilliere sich einen Pfad in die Leinwand. Durs Grünbein, vermutlich der
bekannteste deutsche Dichter, den man 2014 noch einer Vivisektion unterziehen
kann, hat einen neuen Gedichtband einschließlich eines Begleitessays verfasst.
Er handelt vom Mond, und er portiert eine These. Systematisch werden die Krater
des Mondes abgeklappert und unter den Titeln ihrer Namen von Thales bis
Armstrong bedichtet. Einer der Krater heißt Cyrano, was Grünbein den Anlass
gibt, Cyrano de Bergerac einzuweben, den selbst erfabelten Mondbesucher des 17.
Jahrhunderts. Wie Grünbein in seinem Essay nahelegt, war Cyrano besonders
bedacht, seine Rückkehr auf die Erde zu verhandeln. Daraus zieht Grünbein in
seinen Gedichten die folgende Konsequenz, die These eben des Buches: Der Mond
ist auf der Erde interessant, aber nicht auf dem Mond. Als Sehnsuchtsort und
Projektionsfläche ist er erledigt, sobald der Mensch durch sein Geröll stapft.
Damit wäre ein möglicher
Aufgabenbereich der Literatur gefunden, nämlich, eine Aussage über die Welt zu
machen. Entsprechend neigt Grünbein auch zur Philosophiererei:
Wer kann durch das Fernrohr der Metaphern sehen,
In dem das Ferne nah – das Nächste fern erscheint,
Kausalitäten sich verknoten und Ereignisse?
Wie vieles übereinstimmt im Verschiedensein. (Tesauro, s. 12)
Ein großes Tier war dieses All, von Stern zu Made
Derselbe Zwischenraum. Man konnte in ihm baden. (Isidorus, s. 17)
Wußte er von der Vielheit der Welten? Wie Läuse
Den Wald auf dem Kopf eines Bettlers bewohnen,
Wirbelte mehr als nur ein Volk um die Sonne. (Grimaldi, s. 18)
Selbstverständlich möchte
Grünbein ab und an den Titelhelden der Krater und Poeme seine Reverenz
erweisen, indem er wiedergibt, was er für ihre denkerischen Kernpunkte hält.
Aber das Verfahren wirkt zufällig. Manchmal geht er auf die Genannten ein, dann
wiederum enthält er sich jeder Bezugnahme. Unter anderem deshalb, aber auch
weil nur schon ein Ansatz zur Distanzierung von den Paraphrasen, sofern es sich
denn um solche handelt, nicht zu erkennen wäre, scheinen die philosophierenden
Passagen direkt vom Dichterich verantwortet. Leider bestehen sie aus nichts als
möchtegern-profundem Nonsense (siehe oben); sie sind einfach enorm schlechte
Philosophie. Sollte der Wert der Literatur sein, schlechte Philosophie
anzubieten? Ich hoffe nicht. Parmenides hat seinerzeit gute Philosophie
gedichtet, und es wäre vielleicht mit Mühe denkbar, dass jemand Ähnliches heute
wieder geschehen lassen könnte, obwohl ich um die Existenz eines solchen
Ambidextren nicht weiß. Jedenfalls ist Grünbein keiner von ihnen (siehe oben).
Ich würde vorschlagen, die Philosophie den Philosophen zu überlassen und die
Kosmologie den Physikern. Unsinnige Pseudoweisheiten, sofern ernst gemeint,
sind unlesbar und verderben Gedichte.
Aber natürlich erschöpft
sich Grünbein nicht im Maximenhaften. Vielleicht die am weitesten verbreitete
Forderung an die Lyrik ist, dass sie Erlebnisse und Gefühle fassbar machen
soll, die allen bekannt sind, aber gemeinhin nur vage getroffen werden. Bei
Grünbein fungiert der Mond als Bezugspunkt für ein solches gemeinschaftlich
menschliches Fühlen. Einerseits bietet er durch seine Ubiquität die
Geborgenheit eines Fixpunkts, andererseits stellt sich angesichts seiner Kälte
und Unvergänglichkeit Verlorenheit ein:
Vielleicht war er der Ruhepunkt, den alle suchten,
Ein Leben lang, und dann doch bald vergaßen.
Sie blickten auf und sahen – sahen ihn nicht mehr.
...
Ach ja, der Mond. Sie kannten ihn – das war
Dies bleiche Osterei. Es hing wie ausgeblasen
Über dem Lichterdunst der Städte, Jahr um Jahr. (Sacrobosco, s. 85)
Wer kann sagen, wie es auf dem Mond wohl roch?
...
Und kein meerweites Flüstern. Geologische Stille.
Nichts zum Erinnern – und nun? Keine Topographie
Für die Irrfahrt des Ichs, gebucht auf ein Du. (Hevelius, s. 86)
Solcher Appell ans
Gemeinschaftsgefühl kann Trost leisten. Ich bin häufig traurig und weine in der
Trauergondel vor mich hin; und dann hilft es, wenn man sieht, der andere habe
auch schon als Mondlandschaft auf einem staubigen Marmorklotz gestanden,
während vor seinen geschätzten Augen Brangelina umarmt durch lauwarm
beschattete Lauben schlendert; es hilft also, wenn man sieht, es geht dem armen
Tropf so wie mir.
Möchte man die Aufgabe
der Musenkinder darin sehen, ein Gemeinschaftsgefühl gegen die Einsamkeit zu
produzieren, besteht nur die Gefahr, dass sie doch wieder mit dem
Weisheitendreschen zusammenfällt. Die Plattitüde „Das Menschsein ist ein
Strudel im Siphon“ ist der Plattitüde „Ach, ich sehe deinen Rockzipfel, und mir
wird so rosa“ an Plattitüdität nicht überlegen. Dann ist die Dichterei zwar
nicht schlechte Philosophie, da sie gar nicht Philosophie ist, aber immerhin
banal und langweilig, vielleicht etwa so wie empirische Ratgeberliteratur.
Wiederum wäre zu hoffen, dass die Aufgabe von Lyrik nicht darin besteht, uns
mit Binsen zu flagellieren.
Es gibt allerdings einen
leichten Ausweg für Schriftsteller. Eine Binsenwahrheit wird interessant, wenn
sie gut geschrieben ist, nicht propositional interessant, natürlich, aber
poetisch interessant, und das ist doch alles, was man von der Poesie
letztenendes erwarten darf. Wir sollen uns nicht alle in den Ästhetizismus
flüchten, aber der Verdacht bleibt bestehen, dass das Eigenständige, das die
Literatur leisten kann, im Grund sprachlich ist. Sie ist in der Lage,
Justierungen an herkömmlichen Ausdrücken vorzunehmen und ihnen neuen Lack
überzuziehen, und gelingt es ihr nicht, ist sie eben matt und schal. So gibt es
eine Leere der poetischen Banalität geradeso wie der philosophischen. Es
entspricht der banalen philosophischen Aussage der banale Satz, der
Hausfrauenwahrheit die Hausfrauenidiomatik. Wenn wir von den momentan nicht
verfügbaren ambidextren Poeten-Philosophen absehen und realistischere Ansprüche
walten lassen, wäre also die Aufgabe des Dichters, keine sprachlich banalen
Sätze zu schreiben.
Leider finden sich bei
Grünbein wenige Sätze oder nur schon Wortgruppen, die davon zeugten, dass hier
besonders interessant mit der Sprache gearbeitet wurde. Ein, zwei Hyperbata
fallen auf, manchmal ein Aufprall der Ernsthaftigkeit im Bathos, aber insgesamt
stößt einen doch beinahe nichts in interessante Richtungen; es mangelt an den
kleinen Wendungen, durch die dem Bestehenden etwas Neues abgewonnen werden
kann, und an Verknüpfungen, die nicht auf Anhieb offensichtlich gewesen wären.
Einige Metaphern sind geglückt, bestimmt, und schlecht ist keines der Gedichte,
dazu sind sie zu professionell konstruiert. Aber zuletzt wird in diesem Band
gedanklich wie sprachlich, philosophisch wie poetisch, nur das Hergebrachte
repetiert. Daraus erwächst kein Trost und kein interessanter Platz für die
Literatur.
Montag, 23. Juni 2014
Huere geil (der unpoetische Ton) - Zu Joachim Lottmann
Joachim Lottmann, Endlich Kokain, Kiepenheuer & Witsch
2014.
"Hoc
et corpum meum" reclamat Cicero iridescens "et in farfalla solvibitur
orbs" & exit. Jenes Buch ist
so schlecht, dass es bereits wieder schlecht ist (und zwar noch schlechter).
Wackel, wackel, kleiner Dackel!
der
pontifex, cara Joachim, auferlegt dir (auch pontifexe hageln heiter) (asking
for more sunset from the sunset is why my sun set) einen Tritt im Morgenrot.
Der
Ton wäre unpoetisch, wenn er ein Ton wäre. Es ist schön, dass nicht alle den
Urgrund beschwören (sancta profunditas), man schürfe mir unbedingt die
Oberfläche, aber bitte sehr, es muss doch erst Lack auf dem Nagel sein, bevor
man den Entferner applizieren kann.
Unser
Erzähler sprüht vor Lustigkeit wie das Ice-Age-Nagetier mit seiner
Disney-Haselnuss; ich kann mich vor Gähnen kaum halten. Es kichern alle Erbsen.
Xenia sah nun, wie dick er
war, und das dämpfte die Stimmung. Ein Rückschlag! Aber Xenia konnte sowieso
nicht mehr anders, als zu reden. - Nein, so schlecht schreiben
kann doch kein Mensch, cara Joachim! (außer Hegemann)
Sonntag, 15. Juni 2014
Der poetische Ton - Zu Dorothee Elmiger
Dorothee Elmiger, Schlafgänger, Dumont 2014.
Bis anhin hat Elmiger zwei Romane veröffentlicht,
und es fällt auch noch nach dem zweiten, Schlafgänger,
schwer, nur einen Satz von ihr zu finden, den man nicht verteidigen könnte.
Höchstens die Plusquamperfektkaskade gegen Ende des zweiten Abschnitts auf
Seite 13 ist fragwürdig; ansonsten ist der Text, in gewisser Weise, makellos.
Zudem ist die Prosa, anders als bei Gstrein, auch mehr als lediglich
handwerklich gut. Nahtlos und souverän in der Tonlage ist sie, in gewisser
Weise, eigenständig, mit eigenem Duktus und eigenem Ziel.
Schlafgänger
ist ein Konversationsstück. Verschiedene Figuren, nicht gerade Charaktere,
sondern eher schemenhaft vorhandene Personen, Figuren also, unterhalten sich
über Grenzen, Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum, aber vor allem konkret
über Migrationsgrenzen, wie die kalifornisch-mexikanische Grenzlinie oder den
Rheinhafen in Basel. Es erzählen ein Logistiker, eine Schriftstellerin usw. von
ihren Eindrücken, Erlebnissen bezüglich Grenzen und verleihen dem
Tagesgeschäft, wie es in Zeitungszitaten im Text aufblitzt, durch ihren
suchenden, !mystisch suchenden Gestus, an der Grenze von Wirklichkeit und Traum
eben, eine abgrundtiefe Bedeutung. Wie schon in der Einladung an die Waghalsigen, Elmigers erstem Roman, wird die
Bedeutung, die sich in der Abgrundtiefe findet, nicht explizit, aber die
Suggestion, dass die Bedeutung bedeutend ist, ist eindeutig: Wie die
Waghalsigen, so schürfen auch die Schlafgänger an den Grundfesten der Welt.
Dazu wählt Elmiger, ebenfalls wie im
Vorgängerroman, einen poetisch beschwörenden Ton, der sich sanftest wiegt. Wir
kennen diesen Ton. Vielleicht ist schon die Anspielung im Titel auf Hermann
Brochs Schlafwandler gewollt, aber
bestimmt ist die Nähe zu Autoren wie Gerhard Meier oder, noch zeitgenössischer,
Friederike Kretzen spürbar. Es ist der klassische Ton heutiger poetischer
Romanschreibung und wirkt als solcher, in gewisser Weise, vorgefertigt. Denn
seine Zutatenliste ist Allgemeingut: Zunächst treten die Protagonisten als
Erzähler auf und werden nur vage charakterisiert, in dem Sinn eben, in dem sie,
wie oben genannt, Figuren sind. Außerdem wird das Erzählte nicht gewertet,
sondern verharrt, ganz Phänomen, in der Beschreibung. Schließlich herrscht die Parataxe,
und mithilfe eines Kommaschwarms werden Impressionen wie in einem Verzeichnis
aufgereiht und häufig auch refrainartig strukturiert, wie in einem Gedicht
eben, vielleicht sogar einem homerischen.
Die Schlafgänger
folgen der Zutatenliste, und doch ist der poetische Ton bei Elmiger besonders
beeindruckend, dank der Perfektion der Wortsetzung und der erfrischenden
Insistenz, mit der sie schreibt. Die Makellosigkeit oder Perfektion allerdings
wird durch das übermäßige Vertrauen ins Parataktische leicht getrübt. Es
scheint etwas gar einfach, die Schwierigkeiten der Prosa aufzulösen, indem man
sich gar nicht erst an die wahren Gefahren, die Nuancen der Satzverbindungen,
traut, und in gewisser Weise ist diese Einfachheit des Wegs zur Makellosigkeit
ihr Makel. Andererseits ist die Insistenz im Verfahren doch wieder radikal und
eigenwillig und dadurch die erreichte Perfektion zuletzt alles andere als das
Ergebnis schriftstellerischer Gemütlichkeit. So treibt insgesamt die Insistenz
diesen Text an und ringt dem standardisierten poetischen Ton einen wirklichen
ab. Ich erinnere mich, dass ich bei Mayröcker von Insistenz gesprochen habe.
Vielleicht ist auch diese Vergleichsgröße nicht völlig absurd. Um die
bisherigen Bemerkungen greifbar zu machen, bittet ein Auszug zum Tanz:
Eine
wahre Geschichte, sagte Esther und erhob sich: Mit einem befreundeten Kind
bestieg ich ein Tretboot, wir stachen in See, links überholte ein Raddampfer,
rechts lag das Haus, in dem einst Wagner wohnte, überall Alpgebirge, Schwäne
umzirkelten das Boot, ich erklärte das Wort majestätisch, das Kind zog sogleich die Schuhe aus, wann
immer ich das Steuer losließ, hielt es Richtung Süden, sodass wir uns Werftsteg
und Bootshafen näherten, statt ins Offene hinauszuschippern, ich wies das Kind
darauf hin und steuerte gegen, warum es unbedingt in diese Richtung fahren
wolle, fragte ich, die Sicht war klar, die Vögel trillierten, das Kind zuckte
mit den Schultern, es streckte die Füße zur Seite ins Wasser, der Winter ist
vorbei, jubelte ich, sieh an, ein Ausflugsschiff namens Schiller passierte uns, das Kind trank Coca-Cola,
über uns donnerte die Patrouille Suisse. Erst Tage später las ich zufällig, zu
genau jener glänzenden Zeit, als das Kind Richtung Süden steuerte, die Alpen so
majestätisch sich erhoben und das
Ausflugsschiff den Quai verließ, sei am Werftsteg ein neunzehnjähriger Algerier
(so schrieb die Zeitung) beim Schwimmen ertrunken. (s. 107)
Die Pointe hier ist ganz typisch. Oft wirft
Elmiger Berichtfetzen ein, meistens mit Bezug zu Opfern der Migration, die im
freien Fall aus der poetischen Lage ein hohles Schlucken auslösen. Mit diesem
Effekt wird das Thema des Buches, denn es hat eben ein Thema, nämlich den
globalisierten Flüchtling, angegangen. Das hohle Schlucken speist sich aus dem
unmittelbaren Nebeneinander des im Stacheldraht Zerfetzten mit der Krokusblüte
und fügt sich so schön aus der parataktischen Poesie des Romans. Der Effekt ist
bekannt, auch er gehört zum Standardrepertoire des poetischen Tons, wie er,
wenn auch weniger tagespolitisch, von Gerhard Meier gepflegt wurde. Die Frage
ist, ob der poetische Ton zur Behandlung eines Themas wie der Migration
geeignet ist, und die Antwortet lautet, nein. Man soll nicht gleich nach
Reporterhärte schreien oder sich das wunderbare Hackebeil Jelineks wünschen,
aber etwas mehr Konfrontation mit der Politik, wenn denn schon Politik sein
soll, täte gut. Nur einfach Zitate in den Text einzulassen, als poetischen
Kontrapunkt, und sie, wie es der Ton befiehlt, schweben zu lassen, ist auf die
Dauer dann doch zu bequem.
Ein warmer Nachmittag in der Hängematte, es
raschelt ein Vögelein zwischen den Zweiglein, durch den schweren Fliederduft
ziehen aus der Ferne Sirenen, ach, in der Ferne wird gekreischt, aber ich liege
in der Watte des Konstatierens im Zitat und stoße mich mit den Zehenspitzen von
der Kirschbaumrinde ins Schaukeln hin und her. Schlafgänger wäre wesentlich interessanter, wenn sich der poetische
Ton ab und an unsanft angriffe, wenn, ja, auch der Kalauer ist ein Werkzeug,
weniger in der Tiefe geschürft und mehr an der Oberfläche gekratzt würde.
Allgemeiner gesprochen vermisse ich, wovon ich
bei Gernhardt et al. zuviel verabreicht bekomme, den Schalk. Die Homogenität
des Textes ist, ich wiederhole mich, beeindruckend. Aber gleichzeitig zeigt er
die Grenzen des poetischen Tons auf. Wenn alles Fliederduft ist, ist auch der
Fliederduft fade. Etwas Esprit, Richtungswechsel, Registerwechsel, vielleicht
sogar Brüche in der Perfektion täten gut. Hier unterscheidet sich Elmiger,
nicht zum besseren, von Kronauer oder Hoppe, die den beschwörenden Klang auch
beherrschen, ihn aber nicht als Allwürzmittel verwenden. Man sagt, ein guter
Autor müsse seinen Stil finden, und möglicherweise ist das nicht falsch. Aber
ein noch besserer Autor sollte auch zum Stilbruch bereit sein. Weniger
klangschön wäre Schlafgänger ein noch
besseres Buch, und vor allem eines, das seinem Thema adäquater würde.
Freitag, 11. April 2014
Larmoyanz - Zu Max Frisch
Max Frisch, Aus dem Berliner Journal, Suhrkamp 2014.
Durch das
Grinsen eines papua-neuguineischen Standgongs klingt ein Hohlklang aus der
Vergangenheit: Frisch spricht wieder. Die Sperrfrist ist abgelaufen, und bis
auf einige aus Rechtsgründen gestrichene Passagen liegt das ganze Berliner Journal von 1973-4 auf dem
Tisch, a cenar teco. Über unseren
Köpfen, auf den Klavieren der Schweizer Literatur steht seit Jahrzehnten die
Büste Frischs, und in allen Träumen blickt sein Pferdekopf illuminiert durch
den Vorhang. Man muss also jede Gelegenheit ergreifen, um sich in Exorzismen zu
üben, Gelegenheiten wie diese.
Aber bevor wir
mit dem Gartenschlauch auf den Gipskopf zielen, werde er noch einmal ordentlich
bekränzt! Frischs Fähigkeit, Privat-Befindliches mit der politischen Weltschreibung zur Fabel zu verbinden, sticht in diesem
Tagebuch hervor wie in den besten seiner Texte. Vielleicht die beeindruckendste
Sequenz dieser Art ist die Beschreibung Zürichs, der Heimatstadt, deren
Straßen, Institutionen usw. persönliche Bekannte sind, als geteiltes Berlin:
Die beiden Hochschulen, wo ich noch studiert
habe, zeigte ich aus der Ferne; die Technische Hochschule und die Universität,
die letztere erweitert durch ein Hochhaus, das die Silhouette dominiert (ich
selber bin seinerzeit bei einem architektonischen Wettbewerb ausgeschieden und
zwar schon im ersten Rundgang, weil man eine solche Dominante keinesfalls
wollte) als sogenanntes Wahrzeichen von Ost-Zürich. Es fehlt nicht an
diesbezüglichen Witzen, die aber nichts ändern. Die Brücke, die den früheren
Hauptbahnhof mit Ost-Zürich verbindet, ist auch von Ost-Zürchern nur mit
besonderen Tagesscheinen zu betreten, daher meistens leer. Wie bei allen
Brücken sind die Pfeiler umwickelt mit verrostetem Stacheldraht. Die genaue
Anzahl Menschenopfer ist bekannt, wenn auch umstritten. Natürlich wird man von
Ausländern immer wieder danach befragt. Was das Leben betrifft, so hat es sich
hüben und drüben mit den Jahrzehnten eingespielt. Hüben und drüben sind die
Sorgen sehr verschieden, darüber wäre viel zu sagen. Es war ein regnerischer
Tag; mein ausländischer Gast knipste trotzdem, wo immer die Mauer zu sehen ist.
Was soll man noch sagen. Auch West-Zürich hat heute einen Hauptbahnhof, einen
neuen. Der Zürichberg, wo früher die Reichen wohnten, gehört heute zu
Ost-Zürich, die Banken an der Bahnhofstrasse hingegen zu West-Zürich. Alles in
allem kann man sagen, dass wir, im Gegensatz zu ausländischen Gästen, die Mauer
nicht grotesk finden. (s. 114)
Nirgends ist
die persönliche Geste fern, die das heroische Pathos einer entrückten Welt
bricht, hier, ganz alltäglich, bei mir, ja, auch meine Nase läuft. Kein Epos
kann sich entwickeln, und es bleibt uns die hingeworfene Fabel, um die
Welt usw. narrativ zu fassen, eine changierende und improvisierte Form. Aber
"die Welt usw." ist immer präsent, artikulierbar geworden durch die
Splitter aus Autobiographie und Fabel, ohne dass wir zu einem in Marmor
gehauenen Fries verpflichtet würden. Das ist Max Frischs Pop. Und es ist der
Pop, der einem vermeintlich Instrumente gegen Thomas Mann oder Robert Musil in
die Hände gibt und ihr ironisiertes, aber ernsthaftes episches Pathos, von
Schiller und C.F. Meyer gar nicht zu reden. Es ist eine fantastische
Entdeckung, wenn man erstmals Frisch liest, dass man jeden Anflug von Pathos
mit einem Hinweis auf seine Pickel vertreiben kann. Das Große wird mit dem
Kleinen aus der Stube gefegt, von Marmorbildern keine Spur mehr oder von
Turmgesellschaften, und das alles auch noch in schweizerisch gefärbter Diktion.
Das Weltproblem ist ein biographisches und das tragfähigste literarische Medium
das Tagebuch. Frischs brillanter Kniff war es, das Tagebuch und seine
Selbstbespiegelungs-mechanismen zur literarischen Form zu erheben, in seinen Tagebüchern genauso wie in seinen
Romanen und Erzählungen, um die bei einigen ins Lächerliche geglittene Welthaltigkeit subjektiv gebrochen zu rehabilitieren. So auch im Berliner Journal.
Nur tritt im Zuge dieser Anstrengungen eine neue Form des Pathos durch die Hintertür,
die heute einen Großteil der Literatur beherrscht, und für die der
Tagebuchschriftsteller Frisch hauptverantwortlich ist, nennen wir sie:
Flagellationspathos. Der Rückgriff auf persönliche Erlebnisse und
Befindlichkeiten endet gemeinhin im Jammerklang, der Turnschuh drücke, man
könne nicht schlafen, sei unbegabt, hässlich, faul und was man sonst so von
sich denkt (meistens zu recht). Das
Jammern ist das simple Ergebnis der Überbewertung des Subjektiven, das man als
Hellebarde gegen das objektive Habsburgerpathos aus der Esse gehoben hat. Das
Reiten zu Ross wurde lächerlich, also dachten wir beim Reiten zu Ross an unsere
Hämorrhoiden. Aber nun sind wir in den Gefilden des ewigen kläglichen
Selbstbezugs, und die Alltagsbanalität entschleiert sich als larmoyanter
Kitsch, als die Freude daran, in jeder Silbe den Oberton der eigenen Minderwertigkeitskomplexe mitschwingen zu lassen. Wir
flagellieren uns wie Märtyrer in spe,
offiziell, um der Welt und ihren Profanitäten zu entsagen, aber insgeheim, um
in der Welt aufzufallen und zur gefeierten Profanität zu werden. In jedem
Spiegel nur dein Gesicht; und schon ist das eitle Pathos zurück.
Wir dürfen die
Larmoyanz ruhig weit fassen. Aller persönlich gefärbte Erlebnisschmalz fällt
in diese Rubrik, genauso wie überflüssig qualifizierendes Wortstyropor, das
dazu dient, die eigene Attitüde zum Gesagten mit dem Marker zu erhellen.
Zudem kann auch der Grenzzaun zwischen Autor und Persona eingerissen werden,
stellenweise wenigstens. Die meiste Literatur, von der die Autoren in Anspruch
nehmen, sie sei durch die Maske gesprochen, definiert die vermeintliche Persona zu wenig klar, als dass man den Anspruch ästhetisch ernst nehmen könnte.
Die larmoyante Persona ist häufig niemand anderes als der larmoyante Autor, und damit hat
es sich. Zuletzt: Selbstverständlich ist nicht sämtliche Literatur dem
Frischpop verfallen, und selbstverständlich hat es längst eine Reaktion gegen
den literarischen Ich-Wahn gegeben. Aber das Phänomen ist immer noch oder
wieder zu weit verbreitet, um akut vom Aussterben bedroht zu sein.
Mit diesem
Styropor im Hinterkopf folgt ohne größere Analyse, oder vielleicht anstelle
einer größeren Analyse, eine Liste von Versatzstücken aus dem Berliner Journal, die man dem Flagellationspathos
zuordnen kann:
ich besitze nicht einmal mehr den Willen, ehrlich
zu sein, nicht einmal mir selbst gegenüber (s. 21)
ich schäme mich zu sagen, dass es ein Jaguar
gewesen ist (s. 24)
über die eigene Scheissfreundlichkeit gerät man
in Zorn (s. 29)
das glaube ich mir wirklich (s. 35)
aber auch das nicht ironisch gemeint (s. 35)
seit ich die Notizen, die anfallen, in ein
Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham (s. 38)
und mit Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf
andre, die auch tückisch sein kann, verhohlen, vor allem doch wieder ein
Selbstschutz (s. 38)
ich weiss jetzt, dass ich nicht schreibe, weil
ich andern irgendetwas zu sagen habe (s. 40)
Manuskript REGEN nicht wiederzulesen (s. 47)
die Langeweile zu leben. weil durch "leben"
kaum eine neue Erfahrung aufkommt. wenn es zu Erfahrungen kommt, so nur noch
durch Schreiben (s. 62)
Und so weiter,
und so fort. Frisch selbst ist die ästhetische Ungenügsamkeit dieser Pose wohl
auch bewusst. Zumindest hat er in einem seiner wehleidigeren Absätze ein "grau,
grau" gestrichen (Seite 82). Aber insgesamt
bleibt der Eindruck der verzagten Selbstreferenz, Betulichkeit, die eine ästhetische Reductio darstellt, wie
sie auf der heroisch-objektiven Seite kaum Hesse überbieten kann, wenn er seine
Helden in kalten Seen !ertrinken lässt.
Der Frischpop
verfehlt also sein Ziel und verströmt ein ebenso schauderhaftes Pathos
wie dasjenige, dem die Revolte galt. Was tun? Eine Möglichkeit wäre, zum
heroisch-objektiven Pathos zurückzukehren. Ähnliches hat vielleicht
Kracht versucht, aber dazu ein andermal. Analogie: In der Philosophie machen wir jetzt einfach wieder Metaphysik und lassen den linguistic turn hinter uns. Aber diese Umkehr wäre
bedauernswert. Die Ich-Literatur hat uns doch so viele schöne Formeln in die Hand gegeben! Wir würden den wehleidigen Narziss vermissen. Stattdessen schlage
ich vor, die Flagellationsliteratur als eigenes Genre blühen zu lassen.
"Ich glaube mir nichts" und "Ach, mich juckt der Hintern"
sind dann wie homerische Formeln zu behandeln, ohne spezifische
inhaltliche Relevanz, aber unschätzbar wichtig als Goldgrund der Ikone. Damit
hätten wir auch die Unterscheidung zwischen Persona und Autor rehabilitiert.
Das jammernde Ich wäre als genre-spezifischer Erzähler und damit als Persona
definiert. Und die Rachen der Larmoyanz wären umschifft. Natürlich bestünde dann
wiederum die Gefahr, dass man in den Abgrund des objektiven Pathos geschlürft
wird und auf dem Boden eines Hesseschen Sees zerschellt, aber auch dagegen,
vermute ich, hilft der UHU-Leim der Formelwelt.
Montag, 17. März 2014
Der schielende Narziss - Zu Perrets Anthologie "Moderne Poesie in der Schweiz"
Moderne Poesie
in der Schweiz, Roger Perret (Hrsg.), Limmat Verlag 2013.
Das beste Buch der Schweiz, und damit der Welt, hat
Roger Perret geschrieben. Denn da die Welt eine Collage ist, wie man weiß, und
jede Collage eine Welt, und eine Anthologie eine Collage, weiß man mit
Väterchen Benjamin, eine Anthologie sei ein Buch im Sinn, nach dem wir sehnen,
ein Werk. Roger Perret hat also das beste Werk zur Schweiz geschrieben, und
damit das beste Buch zur Welt. Die Standardaussage über die Schweizer Literatur
ist, es gebe sie nicht. Die Gegenaussage kann man sich anhand dieser Anthologie
zurechthäkeln: Es gibt sie, sie blickt gerade schräg an dir vorbei, Welt!
In Biel steht heutzutage eine Schreibschule für
BA-Studenten. Viel interessanter war aber ihre inoffizielle Vorgängerin, die
Irrenanstalt Waldau. Nein, die Schweiz ist kein Irrenhaus, und die Schweizer
Literatur ist nicht irr, nur ihr bester Teil, wir, wir haben das Lötschentaler
Grinsen an uns. Aus den Bergen herabgeklettert, gestern erst, o Welt!, umarme
ich dich (mit gehörigem Abstand, dass ich deine Brüste, unzüchtig, nicht fühle)
- wobei Silja Walter gerade Servietten bestickt - aber immerhin, o Sonne!, dein
Wärmestab fährt in meine Iris, und wir tanzen mit dem Pferdehuf, o Huf! usw.
Aber lassen wir diesen Unsinn.
Immerhin ist es, obwohl dumpf bekannt, doch
überraschend, wieviele der Dichter in diesem Band spinnen und sponnen, auch
über Walser, Glauser und Wölfli hinaus, in der Waldau und anderswo, im
experimentellen Gestus weiterhin. Ohne jede Pathologisierung ist man zu einer
Diagnose veranlasst, dass den Schweizern irgendwie trotz allem ein leicht
schiefer Weltblick eigen ist, ein leichtes Schielen aus den Bergkesseln zur
Sonne, Deutschschweizern auch ein sprachliches Hinken in der Hochsprache mit
Holzbein, eine leichte Verrückung der Ansicht und Aussprache, ein Manierismus,
eine vorgetäuschte Ungehobelt-, Unvereinbarkeit, alles vorgetäuscht als ein
Klischee, in dem man sich eingerichtet hat, und trotzdem den Wahn im Sinn als
nirgends endende Ironiespirale (Schwermut). Oder zumindest hätte ich die
Schweizer gerne so und kann sie mir mithilfe dieser Anthologie so collagieren.
Ich schreibe über die Schweiz, die mich interessiert.
Beginnen wir also mit zwei Gedichten aus der Waldau:
ce
roi
qui n'est r i e n
r i e n
et
moins
que
r i e n
de la m e r d
e
de la vache
de la
vache
de la merde
de la
sursursursur
m e r d e
a passé
ce matin
ce premier
nom
est là
il n'y a pas de présence vivante
un tiers d'un rien mais il y a
(Constance Schwartzlin-Berberat, s. 94)
N=Ha=angs=ssi,
Aer ta=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, witt Witt;
N=Ha=angs=ssi,
Aer fa=angs=Sie; N=Ha=angs=ssi, nitt gitt;
N=Ha=angs=ssi,
Aer bra=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, ritt nitt;
Schittara i da,
Krina=lina; G'wittara bi da, Fina griin.
N=Ha=angs=ssi,
Aer wa=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, ? witt Chitt;
N=Ha=angs=ssi,
Aer a=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, Schitt litt;
N=Ha=angs=ssi,
Aer scha=angs=ssi; N=Ha=angs=ssi, bitt nitt;
Bi no Dina, zin
o wie N; Schnitt itz, gritt.
Ist 32 Schläg
Marsch. 1869.
(Adolf Wölfli, s. 40)
Die Versuchung, nach Originalität, Ausdruckskraft usw.
zu rufen ist beinahe zu groß, um ihr nachzugeben, aber wenn man die hohen Worte
als Negativa von Epigonalität und Schwachbrüstigkeit fasst, darf man es sich
vielleicht doch leisten. Jedenfalls ist die Merkwürdigkeit dieser Gedichte, aus
welcher Kondition heraus auch immer, so beklemmend wie befreit. Es sind Texte,
die sich um sehr vieles, worum wir uns sonst kümmern, nicht scheren, besonders
um die Angepasstheit, und ästhetische Kraft daraus gewinnen, dass die Logik
ihres Aufbaus (man gestatte mir!) bis zur Unerschließbarkeit in sich
geschlossen ist. Auf die Gefahr hin, dem Klischee der naiven Kunst zu verfallen,
möchte man sagen, das Schielen hier sei echt und die Verrücktheit des Blicks
unverfälscht. Aber wichtiger als Formeln der Wahrhaftigkeit ist der
experimentelle Gestus, der Mut, eine Tradition weiterzuschreiben, statt sich in
ihr niederzulassen wie in einem durchgesessenen Fauteuil, und diese Justierung
der Tradition geschieht im Verändern des Gewohnten, darin, um die verhunzte
Lichtermetapher weiterzuschreiben, die Augen leicht schräg auf den üblichen
Gegenstand zu richten. Das Schielen des Wahnsinns ist dabei ein Instrument, ein
anderes das nicht-naive Schielen der Avantgarde, sich leicht zu verrücken.
Letzteres an drei Beispielen:
I.
Foie de tortue
verte truffé
Langouste à la
mexicaine
Faisan de la
Floride
Iguane sauce
caraïbe
Gobmos et choux
palmistes
V.
Ailerons de
requin confits dans la saumure
Jeunes chiens
mort-nés préparés au miel
Vin de riz aux
violettes
Crème au cocon
de ver a soie
Vers de terre
salés et alcool de Kawa
Confiture
d'algues marines
(Blaise
Cendrars, aus Menus, s. 19)
Die Strassen
besassen das Aussehen von schöngeschriebenen
Adressen und
dufteten wie Damenhandschuhe, und vom Wald,
durch den
gerade Gassen sich wanden, sage ich nichts, da dies
ein Wagnis sein
könnte, wohl aber lüge ich etwas über ihn, und
indem ich vor
lauter blauer Verlogenheit weiss wie das himm-
lischschöne
Gesichtchen eines auf dem Krankenbett ausge-
streckten
Mädchens bin, ist der Wald feuerrot geworden, und
seine
unzähligen Blätter scheinen mich einzuladen, an die Mög-
lichkeit zu
denken, an das Stattgefundenhaben eines Abendes-
sens zu
glauben, das vorhanden war und sich gleichzeitg nir-
gends entdecken
liess. Gleiche ich nicht einem unausmessbar
tiefen Teich an
reichen weichen Schweigsamkeiten, die sich aus
übereinandergestürzten
Redseligkeiten zusammensetzen, und
sind diese
Zeilen irgend etwas wert? Nein, gewiss nicht! Aber sie
sind ein
Versuch, sich genial aufzuführen, und sollte ein solcher
Versuch nicht
an sich eine Grandiosität sein? Ich ermordete
gestern nacht
sämtliche sich in mir bis dahin aufgehalten ha-
benden
Mordlüste und triefe jetzt noch vor Blut und streiche
mit der
Schwarzheit dieser schwarzen Zeilen mein knallgelbes
Prosastück
meinetwegen dunkelblau an. Gruses Gnusch, was
de bisch. Feine
Huere, wo dr sid. D'Suppe isch verbrännt. Machet's
besser, wenn dr
chönnt. Es isch nämlich cheibe schwär, verrückt
z'dichte.
(Robert Walser)
Aloyse, ou
Wölfli, ou le musicien de Ballaigues, trépassés l'aurore aux doigts, avec des
crayons de couleurs, mâchant mille fois leur rêves sur les mur de la cellule,
sur le plancher, sur les cartons donnés par l'infirmier: la plus suisse de
toutes les vies et de toutes les morts.
(Maurice Chappaz, aus La mort natale, s. 122)
Natürlich wäre es grundsätzlich absurd, die Verrücktheit
der Avantgarde als schweizerisch zu beanspruchen. Aber wir folgen hier der
Stipulation, dass die Schweiz die Welt ist, also folgt... Relevant für unsere
Zwecke ist, dass sich das Schielen über den Wahnsinn hinaus bei den Gesunden
manifestiert und dass die Merkwürdigkeit der Weltbetrachtung tiefer liegt als
die Keller der Waldau. Man merkt dabei auch schon, dass der Schweizer Wahnsinn
ein Konstrukt ist, ja, der Irre in der Zelle, Chappaz, das ist der Schweizer!
Der Irre in der Zelle ist eine Erfindung des Irren in der Zelle, ein weltanschaulicher
Kniff und eine self-fulfilling prophecy.
Selbstverständlich konnte Dürrenmatt den Akkusativ vom Nominativ unterscheiden,
nur passte das nicht in die Pose des abhandengekommenen, bernerisch
verschleppten Schweizers. Nur war er dadurch auch der abhandengekommene
Schweizer: Teil des Wahnsinns ist das vermeintliche Vorspielen des
Nichtgespielten im Spiel, und wer wüsste das besser als Dürrenmatt. Ein
Schweizer Schielen ist also erstens immer vorgespielt, zweitens immer
tatsächlich und drittens: Drittens ist es ein Schielen auf sich selbst. Wir
konstruieren uns nicht nur als Irre, sondern wir konstruieren uns auch als
Schweizer. Kein Schweizer, der nicht andauernd über die Schweiz spricht, kein
Schweizer, der nicht andauernd zur Schweiz schreibt, die Schweiz zum
Problemfall, zum Patienten macht, um den Wahnsinn zu diagnostizieren (zu
konstruieren), anhand dessen man sich auch als Schweizer konstruieren
(diagnostizieren) kann. Der Schweizer steht auch deshalb schräg zur Welt, weil
er immer auf sich selber schielt, sein Schweizersein. Robert Walser wechselt
mit dem Wahnsinn in den Dialekt.
Nur, wozu tut das der Schweizer? Aus Effektsucht. Die
Poesie funktioniert ganz gleich wie das Schweizern. Wir erzielen Effekt und
gewinnen Aufmerksamkeit, weil wir mit den Wanderschuhen in den Ballsaal laufen.
Sich schief zu stellen, merkwürdig aus den Augenwinkeln zu blinzeln, in
Selbstreferenz und Weltblindheit, ist das beste Mittel, um herauszustechen.
Allerdings kümmert es einen Schweizernden wenig, was die anderen denken.
Wichtig ist nur, dass er oder sie denkt, die Welt dächte, der Schweizer sei
besonders. Wir schielen aus Selbstverliebtheit zur Selbstdarstellung. Das
Schielen hat tiefere Gründe als die Keller der Waldau und die Verrückspiele der
Poesie. Nur einmal im Jahr fällt die Sonne durchs Martinsloch, und wir bücken
uns all die Tage über dem Kohlfeld mit schiefen Augen, um den Moment nicht zu
verpassen, den Moment des Strahlens, und tun ganz irr, um Papa Helios auch
bestimmt auf uns zu lenken. Nun, das ist die moderne Schweiz, und das ist die
moderne Poesie in der Schweiz.
Schubert wollte vor seinem Tod noch anständig den
Kontrapunkt lernen, und wir wollen ihn ehren, indem wir den Kontrapunkt ehren.
Nicht die ganze Schweiz ist irr. Im einen Fall muss man sagen, leider, im Fall
nämlich der Ich-sitze-auf-dem-Balkon-und-fühle-mich-lyrisch-Lyrik. Die
verrückte Schweiz ist positiv zu werten, denn immerhin ist sie interessant
(oder lustig). Die Geranien- und Schrebergartenschweiz von Silja Walter, ach,
lassen wir sie beiseite. Ich schreibe über die Schweiz, die mich interessiert.
Im anderen Fall bietet sich die Interessenlage völlig anders dar. Es gibt auch
eine klassizistische Schweiz der weiten Flächen und der Friedellschen
Gipsköpfe. Der König der klassizistischen Schweiz ist selbstverständlich ein
Tessiner, Giorgio Orelli:
Racontino 1947
I
Da molto tempo La stellate sera
è tra i miei
libri perduit,
forse, per
sempre.
Mi spiace per
la dedica
distillata con
tanta prudenza
sotto i miei
occhi, a casa mia, d'estate:
"A Giorgio
Orelli, poeta
nel senso della
fresca giovinezza
che è in lui,
questi versi
d'un uomo
sempre proto ad ascoltare
le voci della
rinascente primavera.
Francesco Chiesa."
II
Volevo un picchio verde sul mio tavolo
e andai nel bosco
per prenderlo
e l'ebbi presto
nel mirino: tranquillo
in cima a un
larice, taceva, ma un attimo prima
che sparassi
fuggì con quel suo trillo
che tanto
piacque a Montale
su un albero
più alto dove poteva anche meglio
ruggiungerlo la
rosa, ma sul punto
di far fuoco di
nuovo volò via
con trillo che
sapeva die beffardo, che ancora cessò
sulla vetta
d'un albero,
e perdurava il
buffo inseguimento
quando, nel
gran silenzio dell picchio, sentii delle voci,
parevano
risate,
e vidi due
giovanotti velluteggiare tra l'erica
e le betulle,
due cacciatori che mi vennero allegri
incontro; di
Sagno, disserio; dico: "Di Sagno? il paese
de Chiesa,
Franceso, il poeta? Poco fa
gli avete fatto
festa, per i settantacinque mi pare."
"Eh, se
fosse per lui...", dice l'uno,
"somiglia
a quello che ha inventato l'ostia";
e l'altro:
"A Sagno avevamo la Posta
noi, mi
ricordo, fin dentro alla guerra
al Chiesa dall'
Italia arrivavano pacchi
e pacchi e
pacchi..."
"Ah",
dico, "libri,
saranno stati
libri."
(ss.177-8)
Im Oberton hört man Horaz (und Petrarca usw.), die
Heimatlandschaft, das Heimatgetier, der Lokaldichter, die lokale Jugend, ohne
erkünstelte Zuspitzungen im ruhigen Fluss metrisch sicher dargestellt; die
Politik im Hintergrund, doch präsent, die Wechsel von Beschreibung zu direkter
Rede und umgekehrt, die Setzung der Sphragis, der Schnitt zwischen den Strophen
ohne Entschuldigung selbstbewusst getroffen, das Biographische, Alltägliche,
Politische in Ruhe aufeinander bezogen. So wie man es bei Horaz findet, wenn er
Maecenas zum Abendessen einlädt... Es ist beiläufige, undramatische Lyrik, die
durch Ausschluss aller Fanfarenstöße das Äußerste wagt, ohne sich in Weisheit
oder Effekt in Phrasen einzubohren alles an der Oberfläche, tiefenlos zu
belassen, klassizistisch eben. Diese Schweiz blickt so gerade in die Ebene,
dass man an Bergkessel nicht dächte. Alles hat seinen gesicherten Ort, vom
Verrückten ist keine Spur, von der Gummizelle und
Nominativ-Akkusativ-Karussellen ahnt man nichts. Beinahe vermisst man das
Verquere und Verschrobene bereits wieder, trotz aller Bewunderung für die
Perfektion. Dann muss man sich in Erinnerung rufen, dass auch glattes Eis tief
sein kann, und ich verneige mich vor dem Meister Orelli.
Doch Klassizismus erscheint auch anders, vielleicht in
einer Gestalt, die synthetische Herzen wie meins glücklicher stimmt. Vielleicht
auch in einer zukunftsweisenderen Gestalt, da er alte Formen und Gesten
bedient, ohne die modernen Verrückungen zu übergehen. Es ist Zeit für Urs
Allemann:
Alkäisch die achte
Das Herz dir ausreisst dass es zu wachsen nicht
den
Rippenbunker und die Musik nicht mehr
hinauffliegt da
die Zimmerdecke
dir in den
Himmel und Wolkenbäche
an dir herunter während die Zunge noch
die Sonne
wegkickt und das Wort Äther dich
so unbetäubt
dass nie den Hirnstein
dir aus dem
Schädel zu klopfen Töne
genug und Bilder wie sie dir augenlos
zusammenrascheln
wenn im Vokabelsturm
du Dinge
loslässt dass der Atem
durch dich
hindurch in ein ander Ohr dich
zu stranden auf der Welle ob Regen du
ob
Rückflussrinne wär es ein Körper wär
es Schlaf zu
nennen wenn der Wind sich
um dich aus
Pochen und ob es Haut wär
(s. 427)
Hier blickt der Schweizer in die Ebene und ist ruhigen
Bluts, und doch schielt er froh, der Gipskopf schielt, und die Metopen
verrutschen auf ihren Holzbeinen. Das Schielen nach sich selbst im
Wasserspiegel, doch, ich glaube, auch das ist noch da, hier steht noch
wunderbar der ganze Schweizer Narziss, nur hat er seinen Wahnsinn, seine
Ironie, seine Schwermut in eine luzidere Form drapiert, die das Riechen in die
Weite ohne Verzicht auf die Lötschentaler Maske erlaubt.
All das ist historische Betrachtung. So war die
Schweizer Literatur und in ihr die Schweiz. Wie sie wird, wer weiß. Ich hoffe
auf den Lötschentaler Klassizismus. Einstweilen aber ist Perrets Anthologie as
Patientenakte unübertrefflich.
il s'évaderait
à jamais
dans cet
archipel de calme et de douceur
où les idiots
peuvent marcher dans l'auréole
d'un soleil à
eux seuls réservé
il posa sa tête
sur le rail
l'âme en paix
comme un
nouveau-né qui s'endort
(Francis Giauque, aus L'idiot du village, s. 127)
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