Sonntag, 30. Juni 2013

Auf tiefem Eis - Zu Felicitas Hoppe

Felicitas Hoppe, Hoppe, Suhrkamp 2012.

Dieses Buch ist leicht zu lesen, sehr schwer zu lesen, äußerst leicht zu lesen, unendlich schwer. Es ist leicht zu lesen, weil es inhaltslos ist und man mit roten Pausbacken über seine Oberfläche gleiten kann. Es ist sehr schwer zu lesen, weil diese Inhaltslosigkeit zu einem Mangel an jenen Reibflächen führt, die man als Leser experimentellerer Literatur gewöhnt ist, auch aus Hoppes eigenen früheren Büchern wie Johanna; sprachliche Feuerwerke, komplizierte Metaphern, sinnesschwere Reflexionen finden sich kaum. Es ist äußerst leicht zu lesen, weil einem die Eleganz und Makellosigkeit der Sprache die Inhaltsschwere als Lesestimulus ersetzt. Das Buch ist unendlich schwer, weil aus der Makellosigkeit, der stilistischen Vollkommenheit, der Inhaltsleere eine Traurigkeit und Verlorenheit aufgeht, dass man sie, je weiter der Text fortschreitet, kaum mehr aushält.

Die Inhaltslosigkeit von Hoppe entsteht durch die Überfülle an Inhalt. In Hoppes Biographie sind wir einmal in Kanada und spielen Eishockey mit Wayne Gretzky, dann in Australien, irgendwann wird wie Glenn Gould Klavier gespielt, in Hameln fängt mit dem Rattenfänger alles an, und es endet alles im Red Crab Inn in Adelaide. Hinzu kommen Auszüge aus Notizen, Romanen usw Hoppes, der Figur, Kommentare Hoppes, der Autorin und Rezensionen zu Hoppe, der Figur, das heißt der Autorin. Diese leere Überfülle parodiert die Erlebnisliteratur all der mit Schimpansen geturnthabenden Globetrotterinnen, aber nicht satirisch böse, sondern mit kindlichem Ernst und luftiger Ironie: Die Überfülle wird verspielt ernstgenommen als literarische Möglichkeit und ausgebaut zur Eisskulptur in Schönheit ohne Leben. Zumindest scheint es zunächst so, und man fühlt sich gleichgültig abgewiesen, nicht wegen der eigenen Gleichgültigkeit dem Text gegenüber, sondern wegen der Gleichgültigkeit des Textes gegenüber dem Leser. Der Text scheint den Leser nicht zu brauchen, er ist in sich glücklich gefroren, und man findet keine Haftung, obwohl man sich an der glatten Oberfläche stellenweise freut. Es fällt einem leicht, die ersten hundert Seiten in einer halben Stunde zu lesen, man verpasse nichts. Nur merkt man dann, dass man doch etwas verpasst hat.

Zum einen eben die Sprache. Es hat sich eingebürgert, dass das Ergebnis von experimenteller Literatur, das heißt von Literatur, die sprachlich oder anderweitig formal etwas versucht, eine Sprache ist, die sich, wie bei Mayröcker, jenseits der Eindeutigkeit verhüllt. Hingegen ist es das Markenzeichen des intellektuellen Schwachsinns geworden, "neu zu erzählen" und das Experiment an der Sprache überwunden zu haben. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, sich in Hoppe einzufinden. Der Roman scheint erst einmal banal, poetisch harmlos und literarisch unbefriedigend. In diesem Stadium der Lektüre überspringt man eben ein-, zweihundert (der dreihundert) Seiten. Aber bald stellt sich heraus, dass Hoppes Sprache sehr wohl das Ergebnis eines Formbemühens, nicht des Schwachsinns ist und mutiger als manche ostentativ verschwurbelten Kompositionen. Die Sprache ist durchsichtig und klar, filigran gebaut, wie es nur ein Künstler kann, der das ganze Spektrum der Literatur aktiv durchlaufen hat, der komplizierte, opake Metaphern bauen kann, sich aber entscheidet, es nicht zu tun. Hinter jedem eindeutigen Satz in diesem Buch steht ein zweideutiger, der aus bewusster Entscheidung nicht an seiner Stelle steht und der ihm dadurch an poetischer Komplexität nicht überlegen ist. Vor diesem neuen Hintergrund ist der Leser nun gezwungen, jeden einzelnen Satz zu lesen, die Perfektion des einen reißt einen in die Perfektion des nächsten, bis man das ganze Buch auch eilig gelesen hat, aber Wort für Wort, nicht im Bocksprung.

Zum anderen verpasst ein allzu pausbäckiger Leser die ernste Traurigkeit, die, zuerst kaum merklich, dann überwältigend, aus dem Text aufsteigt. Mit dem Fortschreiten der Erzählung wird ihr Anlass immer deutlicher: Es ist Heimatlosigkeit und Heimweh, die sie prägen, und Hoppe ist nicht nur eine heitere, sondern auch eine verlorene Figur. Ihre Verlorenheit kulminiert im Red Crab Inn, wo sie hofft, sich ihren Vater, der am Anfang ihrer Reisen steht, zu erschreiben, der aber nicht anzutreffen ist, sodass sich die Hoffnung auf ein Wiedersehen, eine Verankerung im Bekannten, vage in die Zukunft verflüchtigt, vage als Möglichkeit einer Fiktion: "Nur der, den ich wirklich suche (gemeint ist offenbar ihr Vater, Karl Hoppe/fh), bleibt unauffindbar, weil ihn bis heute niemand verschriftlicht hat. Soll das etwa heißen, dass es ihn gar nicht gibt? Ich gebe die Suche trotzdem nicht auf, ab morgen gehe ich auf Tournee, von Haus zu Haus, an jede Tür will ich klopfen, den Steckbrief mit seinem Bild hochhalten und nach ihm fragen. Zuerst wird es heißen: Kennen wir nicht nicht, wer soll das sein, nie gehört, nie gesehen. Dann aber wird es, je nach Hartnäckigkeit, heißen: Gesehen zwar nicht, aber schon mal gehört, jemand hat gestern von ihm gesprochen, kann bei den Nachbarn gewesen sein. Und dann wird es, wider Erwarten, heißen: Natürlich, erst neulich im Red Crab Inn. Und dort schließlich wird man freundlich sagen (Fox weiß genau, wie man mit Gästen umgehen muss): Ja, er ist wirklich hier gewesen, hat hier gegessen, gespielt und getrunken, zwei Wochen lang jeden Abend dasselbe." (s. 235)

Zwischen der reinlichen Sprache und der Abgründigkeit der emotionalen Zustände entsteht etwa ab dem dritten der fünf Teile und gegen Ende zunehmend eine Spannung, die einem dann doch die Reflexionstiefe und -schärfe beschert, die man aus Hoppes früheren Werken gewohnt ist, ohne dass man dadurch allerdings die perfekte Kälte der Sprache einbüßen müsste. Der Eindruck verstärkt sich, weil man als Leser beinahe nichtsahnend in diese Abgründe hineingleitet, der Boden glänzt unverändert, und man plötzlich selbst verloren dasteht. Diese traurige Grundstimmung war durchwegs schon da!, denkt man sich und fühlt sich nicht wegen der Plötzlichkeit des Eintreffens der melancholischeren Passagen getroffen, sondern wegen der Plötzlichkeit der Erkenntnis, dass man etwas für Oberfläche hielt, was Tiefe ist. Darin ist der Stoff der Sprache selbst ähnlich, und deshalb ist der Stoff auch in dieser Sprache ausgedrückt: Klar wie Kristall, klar wie klares Wasser, klar wie ein klarer Himmel, sehr klar, und doch in der Weite dunkel grundiert.

Mittwoch, 5. Juni 2013

!Ach !ja in Schönheit - Zu Friederike Mayröcker


Friederike Mayröcker, ich sitze nur GRAUSAM da, Suhrkamp 2012.

Wieder und wieder sprießt ein Mayröckerscher Frühling, der so dunkel und feucht ist, wie wir den Schokoladenkuchen mögen, „rings die Herrlichkeit der Welt.“ Niemand versteht das Kunsthandwerk der poetischen Prosa wie Mayröcker, die sich Jahr um Jahr tiefer in die Sprache eingräbt, um ihr ein neues Glitzern abzuringen, als wäre sie noch ganz und gar ungesprochen. Dabei beherrscht sie das Handwerk so vollkommen, dass ihre Texte eine fast natürliche Schönheit annehmen, wie Landschaften, nicht wie Landschaftsbilder. Oberflächlich betrachtet sind sie rein Sprache, nicht Plot, nicht psychologisches Drama, sondern nur Sprache. Daran hängt dann eben auch der Eindruck ihrer Naturschönheit, sie repräsentierten nichts, sondern wären nur da, usw. Der erste Eindruck trügt nie ganz oder zumindest nicht auf uninteressante Weise. Aber wenn man Mayröckers Prosa besser verstehen möchte, muss man dann doch auch, wie im folgenden, den Plot, das psychologische Drama erkennen, aus der sich der sprachliche Eindruck entwickelt.

Der Mayröckersche Klang ist wohlbekannt, aber hier, als Sprungbrett, ein Aperçu:

mir träumte 1 überflutete Figur, sage ich zu Ely, aber der Traum löste sich auf wie sich Wolken auflösen, es waren schon einige Sekunden vergangen gewesen, mir träumte Picassos Harlekin oder Pierrot mit Nickelbrille aus der "rosa Periode" wir wechselten in den Schatten weil 1 Tisch freigeworden war und Ely sagte "die Kinoleinwand vor uns oder der Fernseh Kasten", nämlich 1 Gruppe Kunststudenten welche uns gegenübersasz und sich leise unterhielt eines der Mädchen mit perfektem Haarschnitt etc., (Nam June Paik auf dem Monitor als "TV-Buddha"), nämlich auf den Fersen sitzend, 1 galanter Wind, sagte Ely (s. 21)

Was tut Mayröcker in solchen Passagen und was tut sie nicht? Sie schreibt krampflos, ohne sich auf der Suche nach Bildern zu verbiegen und ohne die gefundenen Bilder festzuhalten, einzusperren und auszupressen. Stattdessen tippt sie ein Bild an, damit schon das nächste usw., d.h. sie streift die Bilder nur beiläufig, so kurz, dass einem kaum klar wird, ob es sich dabei um Metaphern oder Beschreibungen oder beides handelt. Es spielt auch keine Rolle, ob ein Bild eine Metapher oder eine Beschreibung ist. Vielleicht spielt es nicht einmal eine Rolle, ob es ein Bild ist. Wichtig ist die Beiläufigkeit selbst, das Voranschreiten oder genauer: der Schritt der Prosa. Damit bin ich schon etwas obskurantistisch geworden, ich beginne erneut.

Man könnte versuchen, diese Stelle aufzuschlüsseln, genau zu zeigen, wofür der Harlekin steht. Zum Beispiel für den Erzählgestus oder doch für Ernst Jandl oder für seinen Mops? Oder warum gewisse Stellen kursiv gehalten sind. Zum Beispiel: Die kursiv gedruckten Satzteile machen den Traum aus oder sind Zitate von Ely oder sind in irgendeiner Weise besonders an Ely geknüpft. Oder was die Beziehung des Windes zu den Wolken, zum Buddha, zum Haarschnitt ist (zum Beispiel...) oder was Nam June Paik mit Picasso zu tun hat. Oder man könnte den nicht-symbolistischen Weg wählen und die Stelle als naturalistische Szene beschreiben, wie Ely und Ich in einem Café (?) sitzen, eine Szene, in die all die vermeintlichen Symbole als Eindrücke eingelassen sind. Das könnte man tun. Aber das stärkste Bild, das all diesen Bildern zugrundeliegt, ist dasjenige der älteren Frau, die in ihrer Wohnung nur dasitzt (GRAUSAM) und der die Bilder durch den Kopf schreiten. Deshalb ist der Schritt der Bilder das wichtigste, und da die Bilder sprachliche sind und die sprachliche Form Prosa, der Schritt der Prosa.

Nur, was ist der Schritt dieser Prosa? Es ist eben ein beiläufiger Schritt, der nirgends zu lange verweilt. Die Bilder sollen nicht zu ernst genommen werden, weshalb auch auch Plattitüden wie Traumwolken kurz vorbeiziehen dürfen (sic!). Sie werden eingewoben in einen Gesamtklang, einen Rhythmus, der den Leser vom einen zum anderen trägt. Deshalb ist es auch zweitrangig, ob die Bilder echte Bilder sind, d.h. ob sie für etwas stehen: Sie stehen als Klang da, evozieren je nach Bildungsstand des Lesers mehr oder weniger, hängen aber in ihrer Ausdruckskraft nicht von diesen Evokationen ab. Ich kann den Rhythmus nicht festhalten, da die Prosa kein Metrum hat, und den Klang noch weniger, da ich den Text hier nicht vorlesen kann. Es bleibt mir also nichts anderes übrig als etwas obskurantistisch zu bleiben. Wichtiger ist, sich zu fragen, warum die Beiläufigkeit der Worte oder Bilder jenseits der Musikalität auch literarisch das entfaltet, was manche Leute einen "Sog" nennen. Wobei "jenseits der Musikalität" bereits der falsche Ausdruck ist; besser, warum die Beiläufigkeit der Worte durch die Musikalität auch literarisch "in den Bann zieht."

Die Antwort liegt im zugrundeliegenden Bild, demjenigen der Frau, die nur dasitzt. Der Text ist eben doch nicht reine Sprache, sondern auch Psychologie und Handlung. Die Beiläufigkeit ist nur mikroskopisch Beiläufigkeit, wenn man den schnellen Wechsel von Bild zu Bild, von Wort zu Wort verfolgt, aber ohne Lupe betrachtet, ist sie Insistenz. Was wirklich vor uns liegt, ist ein insistentes Fortschreiten der Gedanken, ohne Unterlass, rastlos, und immer im gleichen elegischen Schritt. Das den einzelnen Worten Übergeordnete ist das Denken oder Erinnern der sitzenden Frau, ihr Handeln ist das Sitzen und das Denken beim Sitzen, ihre Psychologie liegt in der insistenten Beiläufigkeit ihrer Gedanken und der Worte und Bilder begründet, die ihre Gedanken sind. Dadurch wird der Text zu einer Art stream of consciousness. Aber die Wirksamkeit verdankt er nicht diesem Allerweltsmittel, dem stream of consciousness, sondern der Sprache, aus der er ihn schöpft, und dem Stillleben, zu dem er ihn formt. Ein zweites Zitat:

(P.S. gepflückte Geste des jg. Schwans im Traunsee, der einen Fusz auf seinen Rücken legt, UM SICH ZU ENTSPANNEN, gepflückte Geste der jg. Kellnerin, die einen Arm auf ihren Rücken legt um auszudrücken die Dienstfertigkeit, die Bereitwilligkeit, die Wünsche der Gäste entgegenzunehmen, usw. also sie will sagen, trotz Dienstfertigkeit möchte sie dem Gast nicht nahetreten.) Ich besitze eine vergilbte Fotografie, sage ich zu Ely, auf welcher meine noch jungen Eltern im Kegel Club sich dem Kegelspiel mit sichtbarer Leidenschaft hingeben, aber auf dieser Fotografie bin ich nicht abgebildet, mein Vater nimmt einen Anlauf und schleudert die schwere Kugel gegen die in 2 Reihen aufgestellten Kegel - ich fehle auf diesem Bild. (s. 25)

Einverstanden, über Mayröckers Text hängt wie ein Schatten von Buchenblättern (genau so) die Gefahr der Betulichkeit. Die Betulichkeit ist im wesentlichen die Nachfolgerin des Kitsches in der neueren deutschsprachigen Literatur. So wie ich den Begriff verwende, bezeichnet er das Resultat von Literatur, deren Verfasser sich auf halbem Weg zum Pathos zu sehr vor dem Kitsch zu fürchten begonnen hat und sich, vielleicht ironisch, vom Symbolschwangeren abkehrt, um sich der selbstverständlich nicht symbolisch zu fassenden, aber trotzdem !o existentiellen Alltagsbeschreibung zuzuwenden. Betuliche Sprachbilder sind harmlos wie Nippesfiguren, das heißt, sie gehen nicht über ihre Oberfläche hinaus, seufzen aber wie Bäume im Sturmeswind vor Lebenslast. Mayröcker wäre betulich, wenn sie sich vor dem Pathos fürchtete. Aber sie fürchtet sich nicht, sondern schlägt konsequent einen hohen lyrischen Ton an, an den man sich vielleicht gewöhnen muss, der aber fernab jeglicher halbbatziger, halbironischer Seufzerliteratur liegt.

Diese Ernsthaftigkeit ist wiederum daran geknüpft, dass Mayröcker nicht nur Sprachkunst anfertigt, sondern aus einem persönlichen Leben erzählt, in stiller gedanklicher Insistenz der Einsamkeit verpflichtet, in der wir uns zuletzt alle glücklich befinden. Man könnte Mayröcker programmatisch Wallace Stevens entgegensetzen:

The Place of the Solitaires

Let the place of the solitaires
Be a place of perpetual undulation.

Whether it be in mid-sea
On the dark, green water-wheel,
Or on the beaches,
There must be no cessation
Of motion, or of the noise of motion,
The renewal of noise
And manifold continuation;

And, most, of the motion of thought
And its restless iteration,

In the place of the solitaires,
Which is to be a place of perpetual undulation.