Freitag, 6. Dezember 2013

Lieber Archimedes... - Zu Brigitte Kronauer

Brigitte Kronauer, Gewäsch und Gewimmel, Klett-Cotta 2013.

Es ist das Reizkorn im Fleisch dieses Romans und Grund seiner Vollendung, dass er keinen fest bestimmten Ausgangspunkt, keine Leitplanken vorfindet, sondern sich alle Richtungen und Regeln ertasten muss. Abseits von Gattungsnormen, auf die man sich als Hölderlin noch so schön werfen konnte, von Vergil sei gar nicht die Rede, und abseits eines Existenzdranges, dies mein Buch mein Leben!, dem sich Kafka und Musil entlangranken konnten, will man schreiben. Nur woher und wohin? Kronauer greift die Frage bei den Hörnern und schraffiert sich elegant und klug einer Antwort entgegen.

Sie beginnt, im ersten Teil, mit verstreuten Vignetten diverser Patienten einer Krankenpraxis, greift im zweiten Teil eine Patientin, Luise Wäns, heraus, um ihr Raum zum Ich-Narrativ zu gewähren, und löst diesen kompakten Erzählkomplex zuletzt, im dritten Teil, in ein weiteres Vignettengeschwader auf. Beiläufig erscheinen und verschwinden die Akteure, zusammengehalten nur von einem gemeinsament Bezugspunkt, Elsa, der Therapeutin, deretwegen sie in die Praxis tropfen, und auch dieser Bezugspunkt führt die Stränge, die Personen, eher aneinander vorbei als sie zu verflechten. Weder am Anfang noch am Ende des Romans haben die Protagonisten etwas miteinander zu tun, außer dass Elsa ihnen begegnet und sie bedenkt. Wir stehen also vor einem in sich auf- und abtauchenden Sammelsurium von Episoden aus diesem oder jenem Leben, ohne an einer länger haften zu bleiben. Schließlich fächert sich zwar die Episode aus Luise Wäns' Leben breiter auf als alle anderen, aber bedeutender als jene ist auch sie nicht. Alle Figuren des Romans sind betont uninteressant, ihr Auf- und Abtauchen nimmt man kaum wahr, und was sie über sich erzählen oder über sie erzählt wird, ist vernachlässigbar: ein Gewäsch über ein Gewimmel.

All das wäre langweilig, wenn es nicht so bewusst zum narrativen Prinzip erhoben wäre. Nichts an diesem Buch ist zwingend. Wenn man mir erlaubte, die abgewetzten Prädikate aus der Besenkammer zu holen, würde ich sagen: weder formal noch inhaltlich. Kronauer hätte auch irgendwo anders anfangen können als in Elsas Praxis, mit anderen Figuren. Sie beginnt den Roman treffend mit lapidaren Fragen: Pratz, der Schwerenöter? Frau Wäns? Der gute Mensch und Plattfüßler Dillburg? Ja, die könnten es alle sein, ja, die hätten es auch alle nicht sein können. Der lange Mittelteil ist Luise Wäns gewidmet. Warum? Man weiß es nicht und soll es nicht wissen. Ob man aus dem Gewimmel den oder die herausgreift, da nun mal nichts ist als Gewimmel, kann man ja auch einfach den hier nehmen oder die da. Und genau das tut Kronauer. Auf dem weißen Blatt Papier schraffiert sie irgendein Fleckchen, dann ein anderes und immer munterer von hie nach da bewegt sich der Bleistift, bis er unvermittelt einen Kreis genauer abfährt, immer immer wieder, um sich dann von Luise Wäns doch zu lösen und erneut locker da und dort ein wenig Graphit abzusondern. So skizziert man aus der Beliebigkeit heraus die Beliebigkeit akribisch genau.

Soweit, einstweilen, zur Form. Dieselbe Beliebigkeit prägt selbstverständlich auch den Inhalt der angetroffenen Leben. (In der Besenkammer verschmelzen ja immer und andauernd Form und Inhalt.) Warum die eine den anderen heiratet oder nicht heiratet, diesen Hund besitzt oder jene Katze, sich für Blumen interessiert oder Steine, ach, wer weiß warum. Es ist die Austauschbarkeit des biederen Lebens (meines Lebens). Eine besonders schöne Metapher für diese Biederkeit findet sich im Luise-Wäns-Teil, der ausschließlich in einem Naturschutzgebiet spielt, und zwar in einem, wo nicht spektakuläre Gletscher und Steinböcke geschützt werden, sondern Tümpel und Unken. Das entsetzlich Durchschnittliche konzentriert sich allerdings nicht so sehr in den Unken als im Schöpfer der Moorlandschaft: Hans. Hans ist der B-Promi dieser Tümpelwelt, der strahlende Mittelpunkt des sozialen Lebens und ein chauvinistischer Spießer mit eher unterdurchschnittlicher Intelligenz. Luise Wäns, man erinnere sich, die Ich-Erzählerin dieser Episode, ist leider in ihn verliebt, ihre Tochter ebenso und scheinbar alle anderen Lebewesen aus dem Tümpel auch. In den begeisterten Exaltationen des Renaturierungsgenies Hans seitens Rentnerin Wäns tut sich der ganze Abgrund der Beliebigkeit dieser Leben auf: Wenn einer wie Hans zum Himmlischen aufsteigt, könnte es jeder und hätte es jeder gekonnt. Zufälligerweise ist es, im Narrativ und im Leben der Tümpelbewohner, er geworden, Hans.

Nichts an diesem Buch ist zwingend. Das gilt auch für die Sprache. Die Schraffur ist in Fontaneschem Plauderton gehalten, kein Satz ist für sich ausgefeilt, eher, äußerst gekonnt, hingeworfen, Ironie durchzieht die meisten Absätze und bricht das bisschen Gewicht und Bedeutung, das durch ab und an doch zu künstlerische Sätze evoziert wird. Zum Beispiel:

Heute will Herbert Wind es wissen, Herr Wind, der sich im Winter so gern Gebirgsgipfel im Schneesturm ausmalt, bevor jemals irgendeine Menschenseele dort oben gewesen ist. Auf zur großen Tagestour! Da ist er sicher viele Stunden unterwegs, bestimmt acht werden es schließlich sein, selbst wenn er nur kurze Pausen macht. Er hätte nicht übel Lust, in einem Rutsch von den Pyrenäen bis zu den Karpaten zu wandern.
Es trompeten die Berge, es musiziert der Bach. Wie ein Gänseblümchen steht eine kleine Kirche auf der Wiese und öffnet sich weit der Sonne, gemeint ist aber die Unendlichkeit. Man kriegt schon Heimweh nach der Landschaft, noch während man hindurchgeht. Einmal sieht er eine Alte im Bergwald, die sich zu grün-gelblichen Pflanzen hinunterbeugt. Sie bemerkt ihn nicht, ruft nur für sich: "Meine Güte! Waldwachtelweizen. Und da drüben: Klappertopf!" Donnerwetter, die kennt sich aus. Er hat plötzlich Lust, sich zu kämmen, und holt den Taschenspiegel raus. Da sieht ihn ein Firnspiegel an. Es ist ja aber sein persönliches Gesicht, wie es glänzt in Freude und Schweiß. Insgesamt ein herrlicher Tag. (s. 544)

Herr Brück hat Frau Dillburg zu einer Fahrt ins Grüne eingeladen und ihr gestanden, dass er seit dem Tod des Hundes Rex Brück oft von einer Gegend träumt, in der die Tiere keine Angst vor den Menschen haben, und dass er alle zwei Tage ins Fitness-Studio geht und ein kleines Hörgerät trägt. Sie aber trägt ihr neues Kleid. (s. 436)

Aber eben, was auf sprachlicher Ebene besonders deutlich wird, gilt auch auf inhaltlicher und formaler: Die Beliebigkeit, das, was ich das Skizzierte oder Schraffierte genannt habe, ist nicht das Ergebnis mangelnden Könnens oder fehlender Überzeugung, sondern, im Gegenteil, eleganter Meisterschaft und einer ganz bestimmten Überzeugung: Dass das Wesentliche im zunächst vollkommen Irrelevanten steckt und durch eine an dieser Irrelevanz geschulte Ästhetik hervorgelockt werden muss. Alles schwebt irgendwo in der völligen Beliebigkeit, doch dann... erhebt sich der Kinderschänder im Kindergarten! Nein, eben nicht: Die Beliebigkeit wird ernstgenommen und dadurch nicht nur zum zufälligen Anfang, sondern wirklich zum archimedischen Punkt, aus dem der Roman und die Welt gehoben wird. Denn Kronauer stellt sich mit ganzem Gewicht auf diesen Punkt, weicht kein Stück weit von ihm ab, lässt sich nie und auf keiner Ebene aus der Beliebigkeit drängen, und liefert so ein Porträt der Beliebigkeit selbst und im Porträt eine fragmentarische, zufällige eben, Darstellung der Welt. Das ist das einzig Zwingende hier, dass sich die Autorin nicht in den unrealistischen Anspruch "zwingender" literarischer Auswürfe zwingen lässt. Die Beliebigkeit des Beschreibens und Betrachtens der Welt wurde selten so klug und schön vor Augen geführt. Das Problem des fehlenden Ausgangspunktes eines Romans in absentia eines überwältigenden Dranges aus der Konvention oder gegen sie wird zum Problem der zu konfrontierenden Welt gemacht und dadurch selbst zum Ausgangspunkt. Wir haben, für sechshundert Seiten zumindest, ein pou sto in der Postmoderne gefunden, im Vignettengeschwader von Gewäsch und Gewimmel.