Samstag, 21. September 2013

Angela Merkels Gesicht - Zu Norbert Gstrein

Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang, Hanser 2013.

Oswald Wieners 1969 erstmals in Buchform erschienene verbesserung von mitteleuropa, roman wurde kürzlich bei Jung&Jung wieder aufgelegt, bestimmt das beste Buch der Welt: sollten jedoch folgende gespenster unter den anwesenden ausgemacht werden: k.l., chefredakteur h., w. d., e. t., miss austria 19 .. oder manager r., g. b., ing. w., präs. h., der schah von persien, blonde hünen, sitarspieler, jazzer, r. b. oder p. a., ing. s., h.-l., physiker, schnorrer, goscherte weiber, dichter, epileptiker, konstrukteure und designer, architekten, volvofahrer, bayern, provinzler, pariser, surrealisten, studenten, und ähnliches - so soll der regisseur zum walkie-talkie greifen und meldung erstatten. ich komme dann sofort, "auf allen flügeln des hasses", hol mich der teufel, und hau sie in die goschen, haus all die in die goschen wie ein maniak und hol mich der teufel, das wird der grösste intellektuelle genuss meines lebens sein. (vvm CXIII)

Norbert Gstreins neuer Roman ist hier und heute erschienen (siehe oben), ein Roman, kein , roman, aber ein kluger und souveräner Text. Erzähler ist ein Deutschlehrer in der österreichischen Provinz, sein Objekt ein ehemaliger Schüler, der zwischen Literatur, Mathematik und Birkenstockreligiosität seine Exzentrizität kultiviert und unter dem Verdacht der Bombenlegung à la Camus' Les justes steht. Zur Probe:

diese frau ist von meiner rasse, ja erbarmungslos.
ich pudere orkane, nun allerdings ist das meine beziehung zur natur - von diesem vorhandenen schwanz streife ich das erdbeben wenn es da ist, macht das deutlicher, was ich jetzt sagen werde;
da ist ein stück haut damit berührt sie meinen arm, krachend verfällt - verneige ich mich - wahrscheinlich ein gebirge, menschen kommen um: die elemente kochen, in böhmen geht ein viertel ein.
ach! sagt einer, es sind so viele metaphern. - du arsch; hörst du engel reden?, ich schreibe für engel du arsch;
höre! in dieser fut ist tao -

Nein! Welch Verirrung! Das ist natürlich nicht Gstrein; Wiener hat unvorhergesehen überhandgenommen (hymne an den erzengel, vvm LV). Ich zerfalle in Proskynese dem Kunden und bringe ein echt Gstreinsches Klangbeispiel dar:

Die Idee klingt widersinnig, der Reverend sei so weit gegangen, seine eigenen Töchter als Köder zu benützen, um mir die beiden Jungen abspenstig zu machen, auch wenn sich das in Daniels Manuskript nicht nur zwischen den Zeilen so liest. Wenn ich wollte, könnte ich spekulieren, ein unter den Augen des strengen Vaters geklauter Kuss, eine verstohlen in ein Höschen geschobene Hand und was der Versatzstücke mehr sind, aber es ist egal, ob es so war oder nicht, es hat keinen Sinn, sich Gedanken zu machen, und führt nur ins Melodramatische. Dass mich der Reverend nicht mochte, war nichts Neues für mich, beruhte, wie man so sagt, auf Gegenseitigkeit, aber dass sein Reden von der Verdammnis sich so direkt auf mich bezogen haben soll, überraschte mich doch. Natürlich erinnerte ich mich an sein Verdikt, der Kampf um Jerusalem sei ein Kampf um jeden einzelnen Menschen, aber dass er damit den Kampf um die beiden Jungen gemeint haben könnte und er es als seine Pflicht ansah, sie vor mir und meinem Einfluss in Sicherheit zu bringen, weil ich für sie das Verderben war und sie zu unaussprechlichen Sünden und einem Leben in Schimpf und Schande verführen würde, kam mir nicht nur der Formulierung wegen wie eine schlechte Erfindung vor. (s. 165)

Nun, im Rückblick ist die missliche Verwechslung Gstreins mit Wiener doch ganz hilfreich. Zwei Prosastücke könnten nicht unterschiedlicher sein, und daran lässt sich ablesen, worin Gstreins Kunst besteht, sowie, woran es ihm mangelt. Zunächst zum Positiven: Der Roman ist sehr gutes Handwerk, beinahe makellos. Brüche und Ungeschicklichkeiten finden sich kaum. Natürlich ist Wieners Text auch gut gemacht, viel besser noch als Gstreins (dazu später mehr), aber im oberflächlichen Sinn der Handwerksausübung kann die aus allen Fugen gebrochene vvm schwer als ideales Vorbild zur Romananfertigung dienen, während Eine Ahnung vom Anfang genau das ist: ein vorbildlich verfasster Roman.

Die Klugheit des Texts zeigt sich makroskopisch in der Erzählanlage. Vermeintlich ist die Hauptfigur Daniel, der exzentrische Schüler des Erzählers, der bei ihm gemeinsam mit einem Freund einen Sommer in seinem Haus am Fluss verbringt. Um Daniel kreisen die Gedanken und Ängste des Texts, der Zorn usw, und was er getan haben oder noch tun könnte steht im Zentrum. Aber natürlich ist Daniel keineswegs die Hauptfigur. Die Hauptfigur ist der Erzähler. Ihn beobachten wir, seine Erlebnisse und Überlegungen interessieren uns, und er steht am Ende vor uns da. In den letzten paar Jahrhunderten hat sich eine ganze Parade an verspiegelten Ich-Erzählern, in die wir eintauchen!, mit denen wir leiden!, die WIR sind, durch die Saisons gequält, bis sie zum Klischee und ihre Introspektion zum Kitsch wurden. Gstreins Kunstgriff ist so einfach wie überzeugend: Er lässt den Ich-Erzähler zu, er lässt die Introspektion zu, er erlaubt uns, an das Ich nahe heranzutreten, aber er vermeidet die Stereotypie dadurch, dass die Introspektion nur indirekt zur Betrachtung des Erzählers führt, nur in den Augen der Leser nämlich, während das Fokalobjekt des Ichs selbst stark und aufdringlich Daniel bleibt.

Mikroskopisch ist Gstrein ebenso geschickt. Seine Sätze sind lang, aber nie zu lang. Die Nebensatzkonstruktionen werden variiert, aber nicht übermäßig, und wohltariert in Harmonie zum Abschluss im Gesamtsatz gebracht. In der Passage oben könnte man eventuell den Nachsatz "und führt nur ins Melodramatische" anzweifeln, weil er Gefahr läuft, den Satz am Schwanz brechen zu lassen. Aber auch er ist verteidigbar, da er den etwas luftleer hängen gebliebenen Satzteil "es hat keinen Sinn usw" ausbalanciert. Ebenso bewusst verwendet sind die einzelnen Worte. Kaum eines steht zufällig da, Phrasen werden nur im mention, nicht im use zugelassen, und insgesamt bildet Gstrein keine Hohlsätze, die man so an jeder Straßenecke findet. Etwas verdächtig ist oben nur der Einsatz von "geklaut", der zu umgangssprachlich ist, um ins Gefüge zu passen, und zudem gegenüber "gestohlen" keine relevante Bedeutungsnuance herstellt. Selbstverständlich will Gstrein der plumpen Wortdoppelung mit "verstohlen" aus dem Weg gehen, aber da das schiefe "geklaut" nur durch die Hintertür wieder zu derselben führt und Plumpheit im gleichen Ausmaß anrichtet, wäre die Kombination "gestohlen", "heimlich" wohl besser als "geklaut", "verstohlen." Aber eben: Dass solche Lappalien überhaupt auffallen, zeigt, wie gut gebaut der Text im Grunde ist.

"Gutes Handwerk", "gut gemacht", "gut gebaut": Ich meine das nicht spöttisch. Besonders wenn man sich gerade durch Kehl- und Hegemann geschleppt hat, steht Gstrein als Dattelpalme dem hungrigen Kamel da. Endlich darf man sich einem Text wieder übergeben und muss nicht bei jedem Schritt fürchten, dass der führende Autor eine Gletscherspalte übersehen hat. ach! sagt einer, es sind so viele metaphern. - du arsch; hörst du engel reden? Nur, "gutes Handwerk" ist natürlich kein vorbehaltloses Lob. All das kann Wiener auch - und noch viel mehr. Wiener spielt mit hundert Registern; vom Aphorismus über den Tagebucheintrag und das Theaterstück bis zum ernsthaften, aber parodistischen akademischen Essay beherrscht er, innerhalb eines Buches, alles. Dabei ist, genauso wie bei Gstrein, oder sogar noch mehr, kein Wort, kein Nebensatz, kein Abschnitt dem Zufall überlassen, oder wenn, dann absichtlich. Wiener ist Gstrein unendlich überlegen, aber warum? Vielleicht liegt es zuletzt doch an der höheren Handwerkskunst, aber das ist schwer zu beurteilen, da Gstrein nur einen Stil aus einer Perspektive schreibt, und vielleicht, wer weiß, ebenso viele zur Anwendung bringen könnte wie Wiener. Wie dem auch sei: Viel wichtiger ist, dass Wiener Mut hat, wo er Gstrein fehlt, dass er etwas tut, wo Gstrein nichts tut, dass sein Buch Leben hat, wo Gstreins gelangweilt in der Hängematte liegt.

Denn eigentlich ist Eine Ahnung vom Anfang vom Titel über die Erzählung bis zur Prosa belanglos und austauschbar. Wo ist hier der Funke, das Eigenständige, das Experiment? Gut und brav und vorhersehbar. Eine Musterschülerin, gerade so weit begabt, dass sie, zum Glück!, langweilig und pflegeleicht bleibt. Kein entglittener Satz, kein entglittener Gedanke, kein entglittenes Wort. Alles ist unter Kontrolle; weil sich nichts ereignet. Der Roman steht so da und guckt, verzieht ein wenig die Mundwinkel, ja, oder fährt die Hand langsam aus. Aber sonst tut er nichts; es gibt ja nichts zu tun; es geht uns allen so gut! Da würde jede Tat, jedes abnorme Zucken nur stören. Im Dämmerschlaf sind wir glücklich, und deshalb: Wählen Sie die Union. die verbesserung von mitteleuropa trägt den Furor hingegen schon im Titel in sich, sie ist ein invektiver Schüttelbecher: und große Literatur. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Schrifsteller als intellektuelle Durchschnittsware zu produzieren, Schrebergarten- oder Hotelfoyerliteratur, aber genau das ist leider Gstreins Roman, bei aller handwerklichen Meisterschaft. Wir sehen Angela Merkel ins Gesicht und denken: Was wäre möglich gewesen, wenn sie nicht nur rumgestanden, sondern auch etwas getan hätte? Vielleicht nichts. Vielleicht viel. Aber sogar der kläglichste Versuch wäre inspirierender und respektabler gewesen als dieses überzahme Herumgedruckse.