Norbert Gstrein, Eine Ahnung
vom Anfang, Hanser 2013.
Oswald Wieners 1969 erstmals in Buchform erschienene verbesserung von mitteleuropa, roman
wurde kürzlich bei Jung&Jung wieder aufgelegt, bestimmt das beste Buch der
Welt: sollten jedoch folgende gespenster
unter den anwesenden ausgemacht werden: k.l., chefredakteur h., w. d., e. t.,
miss austria 19 .. oder manager r., g. b., ing. w., präs. h., der schah von
persien, blonde hünen, sitarspieler, jazzer, r. b. oder p. a., ing. s., h.-l.,
physiker, schnorrer, goscherte weiber, dichter, epileptiker, konstrukteure und
designer, architekten, volvofahrer, bayern, provinzler, pariser, surrealisten,
studenten, und ähnliches - so soll der regisseur zum walkie-talkie greifen und
meldung erstatten. ich komme dann sofort, "auf allen flügeln des
hasses", hol mich der teufel, und hau sie in die goschen, haus all die in
die goschen wie ein maniak und hol mich der teufel, das wird der grösste intellektuelle
genuss meines lebens sein. (vvm
CXIII)
Norbert Gstreins neuer Roman ist hier und heute erschienen (siehe
oben), ein Roman, kein , roman, aber
ein kluger und souveräner Text. Erzähler ist ein Deutschlehrer in der
österreichischen Provinz, sein Objekt ein ehemaliger Schüler, der zwischen
Literatur, Mathematik und Birkenstockreligiosität seine Exzentrizität
kultiviert und unter dem Verdacht der Bombenlegung à la Camus' Les justes steht. Zur Probe:
diese frau ist von meiner
rasse, ja erbarmungslos.
ich pudere orkane, nun
allerdings ist das meine beziehung zur natur - von diesem vorhandenen schwanz
streife ich das erdbeben wenn es da ist, macht das deutlicher, was ich jetzt
sagen werde;
da ist ein stück haut damit
berührt sie meinen arm, krachend verfällt - verneige ich mich - wahrscheinlich
ein gebirge, menschen kommen um: die elemente kochen, in böhmen geht ein
viertel ein.
ach! sagt einer, es sind so
viele metaphern. - du arsch; hörst du engel reden?, ich schreibe für engel du
arsch;
höre! in dieser fut ist tao -
Nein! Welch Verirrung! Das ist natürlich nicht Gstrein; Wiener hat
unvorhergesehen überhandgenommen (hymne
an den erzengel, vvm LV). Ich
zerfalle in Proskynese dem Kunden und bringe ein echt Gstreinsches
Klangbeispiel dar:
Die Idee klingt widersinnig,
der Reverend sei so weit gegangen, seine eigenen Töchter als Köder zu benützen,
um mir die beiden Jungen abspenstig zu machen, auch wenn sich das in Daniels
Manuskript nicht nur zwischen den Zeilen so liest. Wenn ich wollte, könnte ich
spekulieren, ein unter den Augen des strengen Vaters geklauter Kuss, eine
verstohlen in ein Höschen geschobene Hand und was der Versatzstücke mehr sind,
aber es ist egal, ob es so war oder nicht, es hat keinen Sinn, sich Gedanken zu
machen, und führt nur ins Melodramatische. Dass mich der Reverend nicht mochte,
war nichts Neues für mich, beruhte, wie man so sagt, auf Gegenseitigkeit, aber
dass sein Reden von der Verdammnis sich so direkt auf mich bezogen haben soll,
überraschte mich doch. Natürlich erinnerte ich mich an sein Verdikt, der Kampf
um Jerusalem sei ein Kampf um jeden einzelnen Menschen, aber dass er damit den
Kampf um die beiden Jungen gemeint haben könnte und er es als seine Pflicht
ansah, sie vor mir und meinem Einfluss in Sicherheit zu bringen, weil ich für
sie das Verderben war und sie zu unaussprechlichen Sünden und einem Leben in
Schimpf und Schande verführen würde, kam mir nicht nur der Formulierung wegen
wie eine schlechte Erfindung vor. (s. 165)
Nun, im Rückblick ist die missliche Verwechslung Gstreins mit Wiener
doch ganz hilfreich. Zwei Prosastücke könnten nicht unterschiedlicher sein, und
daran lässt sich ablesen, worin Gstreins Kunst besteht, sowie, woran es ihm
mangelt. Zunächst zum Positiven: Der Roman ist sehr gutes Handwerk, beinahe
makellos. Brüche und Ungeschicklichkeiten finden sich kaum. Natürlich ist
Wieners Text auch gut gemacht, viel besser noch als Gstreins (dazu später
mehr), aber im oberflächlichen Sinn der Handwerksausübung kann die aus allen
Fugen gebrochene vvm schwer als
ideales Vorbild zur Romananfertigung dienen, während Eine Ahnung vom Anfang genau das ist: ein vorbildlich verfasster
Roman.
Die Klugheit des Texts zeigt sich makroskopisch in der Erzählanlage.
Vermeintlich ist die Hauptfigur Daniel, der exzentrische Schüler des Erzählers,
der bei ihm gemeinsam mit einem Freund einen Sommer in seinem Haus am Fluss
verbringt. Um Daniel kreisen die Gedanken und Ängste des Texts, der Zorn usw,
und was er getan haben oder noch tun könnte steht im Zentrum. Aber natürlich
ist Daniel keineswegs die Hauptfigur. Die Hauptfigur ist der Erzähler. Ihn
beobachten wir, seine Erlebnisse und Überlegungen interessieren uns, und er
steht am Ende vor uns da. In den letzten paar Jahrhunderten hat sich eine ganze Parade an verspiegelten Ich-Erzählern, in die wir eintauchen!, mit denen wir leiden!, die WIR sind,
durch die Saisons gequält, bis sie zum Klischee und ihre Introspektion zum Kitsch
wurden. Gstreins Kunstgriff ist so einfach wie überzeugend: Er lässt den
Ich-Erzähler zu, er lässt die Introspektion zu, er erlaubt uns, an das Ich nahe
heranzutreten, aber er vermeidet die Stereotypie dadurch, dass die
Introspektion nur indirekt zur Betrachtung des Erzählers führt, nur in den
Augen der Leser nämlich, während das Fokalobjekt des Ichs selbst stark und
aufdringlich Daniel bleibt.
Mikroskopisch ist Gstrein ebenso geschickt. Seine Sätze sind lang,
aber nie zu lang. Die Nebensatzkonstruktionen werden variiert, aber nicht
übermäßig, und wohltariert in Harmonie zum Abschluss im Gesamtsatz gebracht. In
der Passage oben könnte man eventuell den Nachsatz "und führt nur ins
Melodramatische" anzweifeln, weil er Gefahr läuft, den Satz am Schwanz brechen
zu lassen. Aber auch er ist verteidigbar, da er den etwas luftleer hängen
gebliebenen Satzteil "es hat keinen Sinn usw" ausbalanciert. Ebenso
bewusst verwendet sind die einzelnen Worte. Kaum eines steht zufällig da,
Phrasen werden nur im mention, nicht
im use zugelassen, und insgesamt
bildet Gstrein keine Hohlsätze, die man so an jeder Straßenecke findet. Etwas
verdächtig ist oben nur der Einsatz von "geklaut", der zu
umgangssprachlich ist, um ins Gefüge zu passen, und zudem gegenüber
"gestohlen" keine relevante Bedeutungsnuance herstellt.
Selbstverständlich will Gstrein der plumpen Wortdoppelung mit
"verstohlen" aus dem Weg gehen, aber da das schiefe
"geklaut" nur durch die Hintertür wieder zu derselben führt und
Plumpheit im gleichen Ausmaß anrichtet, wäre die Kombination
"gestohlen", "heimlich" wohl besser als
"geklaut", "verstohlen." Aber eben: Dass solche Lappalien
überhaupt auffallen, zeigt, wie gut gebaut der Text im Grunde ist.
"Gutes Handwerk", "gut gemacht", "gut
gebaut": Ich meine das nicht spöttisch. Besonders wenn man sich gerade
durch Kehl- und Hegemann geschleppt hat, steht Gstrein als Dattelpalme dem
hungrigen Kamel da. Endlich darf man sich einem Text wieder übergeben und muss
nicht bei jedem Schritt fürchten, dass der führende Autor eine Gletscherspalte
übersehen hat. ach! sagt einer, es sind
so viele metaphern. - du arsch; hörst du engel reden? Nur, "gutes
Handwerk" ist natürlich kein vorbehaltloses Lob. All das kann Wiener auch
- und noch viel mehr. Wiener spielt mit hundert Registern; vom Aphorismus über
den Tagebucheintrag und das Theaterstück bis zum ernsthaften, aber
parodistischen akademischen Essay beherrscht er, innerhalb eines Buches, alles. Dabei ist, genauso wie bei Gstrein, oder sogar
noch mehr, kein Wort, kein Nebensatz, kein Abschnitt dem Zufall überlassen,
oder wenn, dann absichtlich. Wiener ist Gstrein unendlich überlegen, aber
warum? Vielleicht liegt es zuletzt doch an der höheren Handwerkskunst, aber das
ist schwer zu beurteilen, da Gstrein nur einen Stil aus einer Perspektive
schreibt, und vielleicht, wer weiß, ebenso viele zur Anwendung bringen könnte
wie Wiener. Wie dem auch sei: Viel wichtiger ist, dass Wiener Mut hat, wo er
Gstrein fehlt, dass er etwas tut, wo Gstrein nichts tut, dass sein Buch Leben
hat, wo Gstreins gelangweilt in der Hängematte liegt.
Denn eigentlich ist Eine
Ahnung vom Anfang vom Titel über die Erzählung bis zur Prosa belanglos und
austauschbar. Wo ist hier der Funke, das Eigenständige, das Experiment? Gut und
brav und vorhersehbar. Eine Musterschülerin, gerade so weit begabt, dass sie,
zum Glück!, langweilig und pflegeleicht bleibt. Kein entglittener Satz, kein
entglittener Gedanke, kein entglittenes Wort. Alles ist unter Kontrolle; weil
sich nichts ereignet. Der Roman steht so da und guckt, verzieht ein wenig die
Mundwinkel, ja, oder fährt die Hand langsam aus. Aber sonst tut er nichts; es
gibt ja nichts zu tun; es geht uns allen so gut! Da würde jede Tat, jedes
abnorme Zucken nur stören. Im Dämmerschlaf sind wir glücklich, und deshalb:
Wählen Sie die Union. die verbesserung
von mitteleuropa trägt den Furor hingegen schon im Titel in sich, sie ist
ein invektiver Schüttelbecher: und große Literatur. Es gibt nichts Schlimmeres
für einen Schrifsteller als intellektuelle Durchschnittsware zu produzieren,
Schrebergarten- oder Hotelfoyerliteratur, aber genau das ist leider Gstreins
Roman, bei aller handwerklichen Meisterschaft. Wir sehen Angela Merkel ins
Gesicht und denken: Was wäre möglich gewesen, wenn sie nicht nur rumgestanden,
sondern auch etwas getan hätte? Vielleicht nichts. Vielleicht viel. Aber sogar
der kläglichste Versuch wäre inspirierender und respektabler gewesen als dieses
überzahme Herumgedruckse.