Sonntag, 25. August 2013

In diesem Garten wird Kohle gefördert - Zu Reinhard Jirgl

Reinhard Jirgl, Nichts von euch auf Erden, Hanser 2013.

Ein Schwan guckt über den Horizont und sieht mir zu, wie ich meinen Hund schamponiere. In allen modert Rührung, und salzige Kaulquappen hüpfen aus unseren Augen, um als Seifenblasen durch die Atmosphäre zu steigen, wo sie sich auf den Brustwarzen der Milchstrasse niederlassen, ruhig vorsichhinzitternd wie demente Urgroßväter in ihren Schaukelstühlen. (Indulgation)

Reinhard Jirgl hat einen Zukunftsroman geschrieben. Einen ausgeprochen säkularen, kann man dazu sagen. Nicht nur sind die Engel, die durch die Wolkendecke fahren, äußerst weltlich, in dem Sinne, dass sie Lebewesen wie Menschen sind, sondern, noch weltlicher, sind sie Menschen, Menschen von dieser Welt: ehemalige Marsauswanderer nämlich, die nun zurück auf die Erde kehren, um dieser ihr Leben aufzuzwingen. Gleichzeitig wird das Säkulare biblisch konterkariert, da die marsianische Erdexpedition den Namen E.S.R.A trägt, nach Esra, dem "Schriftgelehrten, bewandert in der Weisung Mose" (Zürcher Bibel, Esra 7.6), der von Artaxerxes aus dem babylonischen Exil nach Israel gesandt wurde, um dort "Satzung und Recht zu lehren" (7.10). Wie Esra kehren auch die marsianischen Exilanten zurück ins Stammland und belehren die Zurückgebliebenen. Diese Belehrung besteht in erster Linie aus Fortpflanzungsdoktrin, auch dies wie bei Esra, der sich hauptsächlich mit dem Problem der Mischehe befasste. Denn die Erdbewohner, zumindest die Europäer, von denen der Roman handelt, haben sich der "Detumeszenz" verschrieben, der Abschottung von der Welt und der Fortpflanzung, und warten reglos in Frieden auf den Tod. Von den Marsianern werden sie nun mittels rabiater Impfungen wieder zur Regung animiert.

Soweit der Rahmen. In diesem Rahmen bewegt sich ein junger, verliebter Ich-Erzähler, der, als geimpfter Europäer, bald auf den Mond reist, um dort ein Arbeitslager zu überwachen, dann auf den Mars, wo er selbst in Turbulenzen gerät (wobei er auch eine lebende Gans essen muss), bis er am Ende auf die Erde zurückkehrt, ohne (vermutlich) seine frühere Geliebte zu finden, dafür aber, um zu beobachten, wie der Mars in Magmaströmen auseinanderbricht, sein Mond Phobos auf die Erde zurast -; nun, mehr beobachtet er nicht, aber "die Bücher, die nur für Bücher schreiben" (465; übrigens "morfologische Bücher", siehe die Assoziation weiter unten, die den "Roman einer Zukunft", siehe oben, schreiben), schildern das Ende der Welt und des Lebens und versprechen im letzten Satz vielleicht auch einen Neuanfang.

All das, bis auf den Neuanfang, klingt ein wenig nach Lars von Trier, und man kann sich wohl die Frage stellen: Wozu? Diese Frage ist bei Jirgl besonders brisant, da seine Sprache, oder wenn man modisch sprechen will, die Textur des Romans, viel mehr Zerrüttung, Zerklüftung, Zukunft birgt, als es irgendein futuristischer Plot könnte. Zwar ist klar, dass die überwältigende sprachliche Kraft eine Haftfläche braucht, an der sie überhaupt wachsen kann, und das gelingt Jirgl in (post)apokalyptischen Kontexten wie hier oder anhand der Braunkohlelandschaften Ostdeutschlands in Die Stille am besten. Aber leider ist die Albernheit, die jeder Plot an sich hat, und ein futuristischer speziell, der Entfaltung der Sprache, und dadurch der eigentlichen Wirkung des Texts, eher abträglich. Wenn doch ein bisschen weniger Plot sein könnte! Aber damit genug von Geschichten, und zum Kern der Sache. Ein Textbeispiel aus dem wunderbaren Prolog des Romans:

!Tretet Allemauern Allebarrieren !nieder. - !Ja, rasch noch sagen & wagen Das, was noch Niemals von Keinem gesagt & von Niemandem gewagt: Das-Äußerste. Doch ?was ist das-Äußerste : 1 zugespitzte Landzunge aus einer öden Meeresbucht - ? Was findet sich im-Äußersten : im Flachwasser angeschwemmt Unrat Müll Kotbatzen Auswürfe der Immergleichen. Haldenhoch ausgestreut Schallscherben über die Ufer die getrümmerten Schreie - All=ungehört - ?Wohin wagt sich die Atridenschwemme mit verrosteten Schwertern, Bell Kant-oh der Säkulum-Yahoos mit troglodytem Blök & Gemaule, Religion Jogging Nordick Wall-King die Geh-Hilfen fürs ramponierte Hirn, milde Kräutertees & Stullenpapier beschmiert mit Schamanenfett Yogakringel in Butterkrem die Gemüteratzung & Schmalzbrote im Gepäck für den Seelenwandertag : Zum Ex-Oriente-Horizont - Ab-Zucht Gehirnphimose, bedrängt & gehetzt von Notwendigkeiten "Sale. Alles muß raus" - die Heut&hier leben: hartgesotten=verweichlicht.....

Mensch aber wäre nicht-Mensch wüßt er sich nicht immer zu trösten. (7-8)

Optisch fällt Jirgls Prosa auf, und gewisse Leute fragen auch hier: Wozu? Aber anders als im Fall des Plot-Wozu gibt es diesmal eine schlüssige Antwort. Jirgl befindet sich im Kontext einer Ästhetik, die von der Wiener Gruppe (Wiener, Rühm, Artmann, Bayer) und den Zürcher Konkreten (Gomringer) in der Nachfolge von Dada und Joyce über Jandl oder Arno Schmidt bis zur experimentelleren Gegenwartsliteratur läuft. Da wir hier vom Optischen sprechen, nenne ich diese ästhetische Tradition, etwas inkorrekt und vereinfachend, die Tradition der konkreten Poesie. Die Wiener Gruppe, die die konkrete Poesie (mit Gomringer) so etabliert hat, wie wir sie heute kennen, war stark von Wittgenstein beeinflusst und dessen, von Goethe entnommenem, Penchant zur Morphologie. Jetzt wollen Sie doch nicht ernsthaft Jirgls orthographische Kapriolen mit Wittgenstein begründen? Doch! Selbstverständlich! Morphologie also: Wenn man Metasprachen, das heißt Sprachen, die über die Struktur der Sprache selbst etwas sagen, so sehr misstraut wie Wittgenstein, und stattdessen dafür plädiert, dass sich die Sprachstruktur (im Tractatus die logische Form, in den Untersuchungen die Regeln) in der Sprache eingelassen zeigen müsse, dann ist die Übersicht über die Sprache, die Ordnung ihrer Sätze wichtig: eben ihre Morphologie. Denn in einer übersichtlichen Ordnung kann sich die Sprache am besten zeigen.

Zur konkreten Poesie ist es nur ein kurzer assoziativer Sprung. Die Kraft der Lyrik, Wesentliches zum Ausdruck zu bringen, besteht nicht mehr in erster Linie in ihrer Aussagekraft, im Bezug der Wörter auf Ideen, sondern in ihrer Zeigkraft, der Gestalt, der Anordnung der Wörter auf der weißen Seite. In antiken Versuchen wie Simias' Ei sind Gestalt und Inhalt klar getrennt und klar aufeinander bezogen: Das Gedicht handelt von einem Ei, hat die Gestalt eines Eis und ist überdem in ein Ei eingraviert. In der konkreten Poesie der Nachkriegszeit ist so eine Verbindung nicht mehr zwingend gegeben: Es zeigt sich eben etwas in der Gestalt des Gedichts, das sich nicht sagen lässt und auf keiner Metaebene mit Worten fixieren. Hinzu kommt bei Jirgl eine banalere Spielart der konkreten Poesie, Arno Schmidts Etymtheorie, der gemäß, ganz Freudsch, jedes Wort (oder zumindest gewisse Worte) neben der bewussten auch eine unterbewusste Bedeutung habe, die sich nicht hören lässt, sondern nur in der Wortgestalt zeigt. Jirgl verwendet Etyms etwa wenn eine Operationsmaschine nicht nach Algorithmen, sondern "Algo-Rhythmen" (d.h. "Schmerzrhythmen") funktioniert (380). Inklusive solcher Nebenschauplätze erweist sich Jirgls Text also als konkrete Morphologie. Deshalb muss seine Sprache optisch auffallen; es ist ihr Sinn und Zweck.

Mondlandschaft: Die Übersicht, die uns Jirgls Morphologie eröffnet, ist derjenigen über einen avantgardistischen Landschaftsgartens vergleichbar. Hier werden Buchsbaumbüsche nicht zu Karrees geschnitten und die Kieswege nicht gerecht wie in Versailles, und es ergeben sich auch keine ach so schönen Vistas wie in Stourhead, dass man gleich nach dem Riechsalz des Nachbarn fragt. Nein, die Buchsbäume werden wild zerhackt, der Rasen umgegraben, die Basins sind verschlammt, und die Algen winden sich an den Blumentöpfen hoch, um den Rosen die Köpfe kahl zu schlagen. In der Ferne sieht man keinen Buchenhain, sondern eine Braunkohlewüste, am Wasser steht kein Tempelchen mit Apollo, sondern ein Bagger mit hocherhobener Schaufel, aus der der Dung über die Terrassen fließt. So zerklüftet sieht die Sprache Jirgls aus, so voller Pathos, aber auch so kompromisslos und einschüchternd, schön in der Brutalität. Darin zeigt sich die apokalyptische Welt des Romans wie sie kein Plot, keine Rede marsianischer Abgeordneter sagen kann.

Soweit zu Jirgls Veduten qua Veduten. Aber anders als reine konkrete Poesie lässt sich dieser Text auch laut lesen. Und so vollzieht sich dasselbe noch einmal auditorisch. Jenseits der Harmonie und des ebenen Rhythmus kracht und rumort es in dieser Prosa. Hier zwitschern die Vögel nicht, sondern schnellen mit einem zerrissenen Flügel im Todesschrei zwischen fallenden Bäumen empor usw. In diesem Landschaftsgarten stehen auf allen Hügeln äolische Harfen. Aber die Harfenrahmen sind verbogen, die Saiten verstimmt, kreuzweis gespannt, und wenn ein Windlein weht, dann quietscht die Welt wie eine ungeölte Kaffeebohnenmühle, grausig schön. Schön aber epigonal? Nein, denn Jirgl verwendet zwar sehr gekonnt traditionelle experimentelle Techniken, aber so wie er hat keiner geschrieben und schreibt keiner: Seine Texte sind im Schriftbild, im Klang, in der Stimmung eigenständig und unverwechselbar.

Sofort umfängt uns schwerwarmer Brodem Vanille Rosmarin Nelken Moschus Aas stechen hinein Aromen Düfte Gerüche Gestank aus immerwährend Leben=vollem Blühen, ein dicker den Mund verschließender Pfropfen aus erdiglehmiger Wasserluft, weich doch unnachgiebig. Im Vorübergehen streichen ihre Finger über einen Lärchenzweig, sacht u bei-läufig schließt sich ihre Hand um das weiche Grün. - Das Glas in unsrer Nähe beschlägt, 1 Vorhang feinster Tauperlen, die Sich nach-Draußen verschleiernd. Der große dunkelschimmernde Pflanzenleib=seinerseits mag unsere Gegenwart erspüren - sogleich streckt er fleischige Blatthände nach uns aus, bestreicht unsere feucht atmenden Gesichter u die Leiber mit fadendünnen lang&luftig sich hinwindenden Tentakeln, läßt uns weich federnd anlaufen gegen grünliche Büschel, die aus Astwerken hervorwallen wie filzige Tangstauden auf dem Meeresgrund. (145)

Wir sind im Garten des Freiherrn von Risach aus Stifters Nachsommer (diese schweren wonnigen Düfte u den warmen Odem aus ewigem Frühling im Nachsommer eingeatmet, 213). Er ist genauso gepflegt wie vor hundertfünzig Jahren, nur umgestaltet. Niemand trägt mehr Filzschuhe, um den Marmorboden zu schützen. Hier ist nichts Glätte, sondern alles rauh. Zumindest an den wirklich überzeugenden Stellen, an denen sich alles zeigt, was an Zerstörtem und Zerstörerischem dieser Welt gezeigt werden kann. Glatt sind nur die Bemühungen, all das in einen Plot einzuspannen. Im Plot ist Versailles und Stourhead. Er fügt nicht nur nichts hinzu, sondern untergräbt die Kraft des Textes. Wenn man über diese Glätten nur den Pflug schicken könnte! Ich hoffe auf einen Band mit Prosagedichten von Reinhard Jirgl.