Friederike Mayröcker, ich sitze nur GRAUSAM da, Suhrkamp 2012.
Wieder
und wieder sprießt ein Mayröckerscher Frühling, der so dunkel und feucht ist,
wie wir den Schokoladenkuchen mögen, „rings die Herrlichkeit der Welt.“ Niemand
versteht das Kunsthandwerk der poetischen Prosa wie Mayröcker, die sich Jahr um
Jahr tiefer in die Sprache eingräbt, um ihr ein neues Glitzern abzuringen, als
wäre sie noch ganz und gar ungesprochen. Dabei beherrscht sie das Handwerk so
vollkommen, dass ihre Texte eine fast natürliche Schönheit annehmen, wie
Landschaften, nicht wie Landschaftsbilder. Oberflächlich betrachtet sind sie
rein Sprache, nicht Plot, nicht psychologisches Drama, sondern nur Sprache.
Daran hängt dann eben auch der Eindruck ihrer Naturschönheit, sie
repräsentierten nichts, sondern wären nur da, usw. Der erste Eindruck trügt nie
ganz oder zumindest nicht auf uninteressante Weise. Aber wenn man Mayröckers
Prosa besser verstehen möchte, muss man dann doch auch, wie im folgenden, den
Plot, das psychologische Drama erkennen, aus der sich der sprachliche Eindruck
entwickelt.
Der
Mayröckersche Klang ist wohlbekannt, aber hier, als Sprungbrett, ein Aperçu:
mir träumte 1
überflutete Figur, sage ich zu Ely, aber
der Traum löste sich auf wie sich Wolken auflösen, es waren schon einige
Sekunden vergangen gewesen, mir träumte Picassos Harlekin oder Pierrot mit
Nickelbrille aus der "rosa Periode" wir wechselten in den Schatten
weil 1 Tisch freigeworden war und Ely sagte "die Kinoleinwand vor uns oder
der Fernseh Kasten", nämlich 1 Gruppe Kunststudenten welche uns
gegenübersasz und sich leise unterhielt eines der Mädchen mit perfektem
Haarschnitt etc., (Nam June Paik auf dem Monitor als "TV-Buddha"), nämlich
auf den Fersen sitzend, 1 galanter Wind,
sagte Ely (s. 21)
Was
tut Mayröcker in solchen Passagen und was tut sie nicht? Sie schreibt krampflos,
ohne sich auf der Suche nach Bildern zu verbiegen und ohne die gefundenen
Bilder festzuhalten, einzusperren und auszupressen. Stattdessen tippt sie ein
Bild an, damit schon das nächste usw., d.h. sie streift die Bilder nur
beiläufig, so kurz, dass einem kaum klar wird, ob es sich dabei um Metaphern
oder Beschreibungen oder beides handelt. Es spielt auch keine Rolle, ob ein
Bild eine Metapher oder eine Beschreibung ist. Vielleicht spielt es nicht
einmal eine Rolle, ob es ein Bild ist. Wichtig ist die Beiläufigkeit selbst,
das Voranschreiten oder genauer: der Schritt der Prosa. Damit bin ich schon
etwas obskurantistisch geworden, ich beginne erneut.
Man
könnte versuchen, diese Stelle aufzuschlüsseln, genau zu zeigen, wofür der
Harlekin steht. Zum Beispiel für den Erzählgestus oder doch für Ernst Jandl
oder für seinen Mops? Oder warum gewisse Stellen kursiv gehalten sind. Zum
Beispiel: Die kursiv gedruckten Satzteile machen den Traum aus oder sind Zitate
von Ely oder sind in irgendeiner Weise besonders an Ely geknüpft. Oder was die
Beziehung des Windes zu den Wolken, zum Buddha, zum Haarschnitt ist (zum
Beispiel...) oder was Nam June Paik mit Picasso zu tun hat. Oder man könnte den
nicht-symbolistischen Weg wählen und die Stelle als naturalistische Szene
beschreiben, wie Ely und Ich in einem Café (?) sitzen, eine Szene, in die all
die vermeintlichen Symbole als Eindrücke eingelassen sind. Das könnte man tun.
Aber das stärkste Bild, das all diesen Bildern zugrundeliegt, ist dasjenige der
älteren Frau, die in ihrer Wohnung nur dasitzt (GRAUSAM) und der die Bilder
durch den Kopf schreiten. Deshalb ist der Schritt der Bilder das wichtigste, und
da die Bilder sprachliche sind und die sprachliche Form Prosa, der Schritt der
Prosa.
Nur,
was ist der Schritt dieser Prosa? Es ist eben ein beiläufiger Schritt, der
nirgends zu lange verweilt. Die Bilder sollen nicht zu ernst genommen werden, weshalb
auch auch Plattitüden wie Traumwolken kurz vorbeiziehen dürfen (sic!). Sie
werden eingewoben in einen Gesamtklang, einen Rhythmus, der den Leser vom einen
zum anderen trägt. Deshalb ist es auch zweitrangig, ob die Bilder echte Bilder
sind, d.h. ob sie für etwas stehen: Sie stehen als Klang da, evozieren je nach
Bildungsstand des Lesers mehr oder weniger, hängen aber in ihrer Ausdruckskraft
nicht von diesen Evokationen ab. Ich kann den Rhythmus nicht festhalten, da die
Prosa kein Metrum hat, und den Klang noch weniger, da ich den Text hier nicht
vorlesen kann. Es bleibt mir also nichts anderes übrig als etwas
obskurantistisch zu bleiben. Wichtiger ist, sich zu fragen, warum die
Beiläufigkeit der Worte oder Bilder jenseits der Musikalität auch literarisch
das entfaltet, was manche Leute einen "Sog" nennen. Wobei
"jenseits der Musikalität" bereits der falsche Ausdruck ist; besser,
warum die Beiläufigkeit der Worte durch die Musikalität auch literarisch "in den Bann
zieht."
Die
Antwort liegt im zugrundeliegenden Bild, demjenigen der Frau, die nur dasitzt.
Der Text ist eben doch nicht reine Sprache, sondern auch Psychologie und
Handlung. Die Beiläufigkeit ist nur mikroskopisch Beiläufigkeit, wenn man den
schnellen Wechsel von Bild zu Bild, von Wort zu Wort verfolgt, aber ohne Lupe
betrachtet, ist sie Insistenz. Was wirklich vor uns liegt, ist ein insistentes
Fortschreiten der Gedanken, ohne Unterlass, rastlos, und immer im gleichen
elegischen Schritt. Das den einzelnen Worten Übergeordnete ist das Denken oder
Erinnern der sitzenden Frau, ihr Handeln ist das Sitzen und das Denken beim
Sitzen, ihre Psychologie liegt in der insistenten Beiläufigkeit ihrer Gedanken
und der Worte und Bilder begründet, die ihre Gedanken sind. Dadurch wird der Text zu einer
Art stream of consciousness. Aber die
Wirksamkeit verdankt er nicht diesem Allerweltsmittel, dem stream of consciousness, sondern der Sprache, aus der er ihn
schöpft, und dem Stillleben, zu dem er ihn formt. Ein zweites Zitat:
(P.S. gepflückte Geste des jg. Schwans im Traunsee, der einen
Fusz auf seinen Rücken legt, UM SICH ZU ENTSPANNEN, gepflückte Geste der jg. Kellnerin, die einen Arm auf ihren
Rücken legt um auszudrücken die Dienstfertigkeit, die Bereitwilligkeit, die
Wünsche der Gäste entgegenzunehmen, usw. also sie will sagen, trotz
Dienstfertigkeit möchte sie dem Gast nicht nahetreten.) Ich besitze eine
vergilbte Fotografie, sage ich zu Ely, auf welcher meine noch jungen Eltern im
Kegel Club sich dem Kegelspiel mit sichtbarer Leidenschaft hingeben, aber auf
dieser Fotografie bin ich nicht abgebildet, mein Vater nimmt einen Anlauf und
schleudert die schwere Kugel gegen die in 2 Reihen aufgestellten Kegel - ich
fehle auf diesem Bild. (s. 25)
Einverstanden,
über Mayröckers Text hängt wie ein Schatten von Buchenblättern (genau so) die Gefahr der Betulichkeit.
Die Betulichkeit ist im wesentlichen die Nachfolgerin des Kitsches in der
neueren deutschsprachigen Literatur. So wie ich den Begriff verwende,
bezeichnet er das Resultat von Literatur, deren Verfasser sich auf halbem Weg
zum Pathos zu sehr vor dem Kitsch zu fürchten begonnen hat und sich, vielleicht
ironisch, vom Symbolschwangeren abkehrt, um sich der selbstverständlich nicht
symbolisch zu fassenden, aber trotzdem !o existentiellen Alltagsbeschreibung
zuzuwenden. Betuliche Sprachbilder sind harmlos wie Nippesfiguren, das heißt,
sie gehen nicht über ihre Oberfläche hinaus, seufzen aber wie Bäume im
Sturmeswind vor Lebenslast. Mayröcker wäre betulich, wenn sie sich vor dem
Pathos fürchtete. Aber sie fürchtet sich nicht, sondern schlägt konsequent
einen hohen lyrischen Ton an, an den man sich vielleicht gewöhnen muss, der
aber fernab jeglicher halbbatziger, halbironischer Seufzerliteratur liegt.
Diese
Ernsthaftigkeit ist wiederum daran geknüpft, dass Mayröcker nicht nur
Sprachkunst anfertigt, sondern aus einem persönlichen Leben erzählt, in stiller
gedanklicher Insistenz der Einsamkeit verpflichtet, in der wir uns zuletzt alle
glücklich befinden. Man könnte Mayröcker programmatisch Wallace Stevens
entgegensetzen:
The Place of the Solitaires
Let the place of the
solitaires
Be a place of perpetual
undulation.
Whether it be in mid-sea
On the dark, green
water-wheel,
Or on the beaches,
There must be no cessation
Of motion, or of the noise of
motion,
The renewal of noise
And manifold continuation;
And, most, of the motion of
thought
And its restless iteration,
In the place of the
solitaires,
Which is to be a place of perpetual undulation.